Die Saga vom Eisvolk 01 - Der Zauberbund
Blick. Tengel wartet auf
mein
Urteil, dachte sie bewegt. Der »Unmensch« wollte, dass ihr sein Dorf gefiel, befürchtete jedoch zugleich, dass sie ihm gleichgültig – oder ablehnend gegenüberstehen würde.
Durch den Anblick der weitläufigen Berge und die Einsamkeit in ihrem Herzen steckte Silje ein Kloß im Hals.
»Hier ist es so schön«, sagte sie leise. »Ich habe vor all dem Fremden etwas Angst, aber es besitzt eine großartige Schönheit.«
Er atmete erleichtert auf und lächelte. Und Silje freute sich, weil sie imstande war, ihrer Angst vor dem Schrecken Ausdruck zu geben, denn so konnte sie, ohne zu lügen, erzählen, dass ihr die wilde Landschaft gefiel.
Sie zählte zehn, fünfzehn Häuser. »Habt ihr auch Tiere?«
»Natürlich! Wir müssen uns ja selbst versorgen. Dies ist ein Dorf wie jedes andere in Trendelag auch. Nur isolierter. «
»Wie jedes andere Dorf auch«, spottete Heming. »Dies hier ist der gottverlassenste Fleck auf der ganzen Erde, Silje.«
»Habt ihr keine Kirche?«, fragte sie erschrocken.
»Nein, wie kannst du das glauben?«, fragte Tengel. »Aber wir halten in unseren Häusern Sonntagsandachten ab, das geht reihum. Der Häuptling übernimmt das Priesteramt. «
Er sagte das in einem barschen Ton. Silje hätte gern gewusst, wie ein Mann wie Tengel eigentlich zu religiösen Fragen stand.
Gleich bei dem Eistor lag ein Hof, wie eine Wachstube – was er sicher auch war. Ein Mann kam aus dem Haus und begrüßte sie.
»Was für seltene Gäste«, rief er. »Wir hatten euch schon beinah für tot gehalten. Dein Vater wird sich freuen, Heming, deine Frau auch«, sagte er, zum Kutscher gewandt.
Ganz offensichtlich wurde Tengel von niemandem erwartet.
»Sind jetzt alle da?«, fragte der rätselhafte Tengel.
»Für den Winter sind jetzt alle da, ja.«
»Gut. Dann sperren wir den Eingang.«
»Neuankömmlinge?«, sagte der Mann mit einem Blick auf Silje.
»Ja. Sie werden vom Landvogt verfolgt.«
»Deine Frau, Heming?«
Der junge Grünschnabel sandte Tengel einen glühenden Blick zu. »Nein, nein«, sagte er eilig.
Der Mann fragte nicht, ob sie Tengels Frau sei. Diese Möglichkeit schien er nicht in Betracht zu ziehen.
Und das war sie ja auch nicht. Etwas brüske Freundlichkeit und Umsicht erwies er ihr – mehr konnte sie nicht verlangen. Sie war ihm bereits zu großem Dank verpflichtet.
Sie seufzte unmerklich.
Zusammen mit dem Wächter und dem Kutscher ging Heming zu den Pferden. Eines von ihnen hätte in dem Eistunnel beinah ein Hufeisen verloren. Sol schien es entschieden zu kalt zu werden, und sie kroch wieder unter die Decke. Kuschelte sich richtig ein, wie nur eine kleine, selbstbewusste Dame es kann.
»Wo wohnst du, Tengel?«, fragte Silje schüchtern.
Er zeigte auf einen Hof weit oben im Hang. »Dort ist mein Elternhaus.«
Er lächelte wehmütig. Der Gedanke, dass Tengel eine Kindheit und Eltern gehabt hatte, war so sonderbar. Sie konnte es sich nicht vorstellen – es war, als müsste er erwachsen und stark geboren sein.
»Und... wo kann ich... können die Kinder und ich... wohnen?«
»Dort, auf meinem Hof. «
Siljes Herz schlug besonders heftig.
Aber er fuhr rasch fort: »Ich selbst werde in der Almhütte meines Onkels wohnen. Die steht leer und liegt weit unten im Tal. Die kannst du von hier aus nicht sehen. «
»Aber wäre es nicht besser, wenn
wir
dort wohnen? Wir nehmen dir doch sonst dein Zuhause fort. «
»Die Hütte eignet sich nicht für Kinder. Es ist schon gut so, wie ich es sage.«
»Bist du... der Einzige in deiner Familie? Abgesehen von Sol, meine ich. «
»Nein, ich habe eine Cousine, die in einem Haus neben unserem wohnt. Ich selbst bin ja so oft fort, sodass sie den gesamten Viehbestand übernommen hat. Eldrid heißt sie und ist ein gutes Stück älter als ich. «
Silje war sitzen geblieben und betrachtete sein Profil in der einbrechenden Dunkelheit. Sie empfand ihm gegenüber eine unwiderstehliche Anziehungskraft, so stark, dass sie sich wirklich zusammennehmen musste.
Tengel bemerkte ihren Blick und drehte den Kopf. Die schmalen Augen sahen sie sorgenvoll und verträumt an, und ein Lächeln zeigte sich in herausfordernder Gelassenheit. Siljes Herz klopfte so heftig, dass es wehtat. Mit einem Ruck wandte sie sich ab.
»Willst du nicht fragen, wo
ich
denn wohne?«, fragte Heming, der plötzlich aufgetaucht war.
Sie lächelte. »Doch. Wo wohnst du, Heming?«
»Ist das so schwer zu erraten?«
Sie hatte bereits unten am See einen Hof
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