Die Saga vom Eisvolk 01 - Der Zauberbund
entdeckt, der größer und schöner als die anderen war. »Da?«
»Wie hast du das erraten?«, sagte er und spielte den Verblüfften.
Sie waren fertig, und der Kutscher trieb die Pferde an. Langsam setzten sie sich wieder in Bewegung.
Silje sah sich erneut um.
Die Heimat des Eisvolkes...
Sie hatte so lange davon geträumt! Hatte sich labyrinthische Burgen vorgestellt, mit tiefen Löchern in der Erde. In Mondschein gebadet, mystisch, voller Tücke.
Und dann dies! Ein ganz gewöhnliches Bauerndorf, in den Bergen verborgen.
Aber dennoch konnte sie sich nicht von einer unbestimmten Angst freimachen – Panik war es beinah. Was war es, was dieses friedliche Dorf so beängstigend machte? Sein Ruf? Oder war da noch etwas, etwas in der Stille, etwas Bedrückendes oder Bedrohliches – wie die Häuser, die am ehesten zusammengekauerten Ungeheuern glichen?
Nein, Silje glaubte zu wissen, was es war. Es lag ein Hauch von unendlicher Wehmut im Wind, der durchs Tal wehte. Die Atmosphäre von vergangenen Zeiten war nahezu erdrückend. All das, was einmal in diesem Dorf geschehen sein musste! Hungersnöte, Armut, unglaublich kalte Winter, Einsamkeit... Die dramatischen Szenen und die Tragödien, die sich hier abgespielt haben mussten, Krankheiten... Doch zuallererst – die Verbannung, mit der ein einziger Mann vor dreihundert Jahren dem Dorf ein schweres Joch auferlegt hatte.
Auch Silje glaubte nicht an den Pakt des bösen Tengel mit dem Teufel. Doch reichte es nicht auch, dass er Unsicherheit und Misstrauen verbreitet und Schrecken unter den Unglückseligen gesät hatte? Das war genug des Bösen, jedenfalls an diesem einsamen und verfluchten Ort.
Das Gefühl der Verlassenheit hätte sie fast überwältigt. Instinktiv suchte sie Tengels Hand. Doch er merkte es nicht, er war ebenfalls in Gedanken versunken. Auch seine schienen ganz finster zu sein.
Die Dunkelheit kam. In einigen Häusern glommen kleine gelbe Lichter. Das Eisvolk begab sich zur Nachtruhe.
Hinter ihrer langsamen Prozession ertönte ein Dröhnen. Es pflanzte sich in wogenden Wellen fort, schlug gegen die Felswände und kam zurück. Dann erstarb das Grollen.
»Nun ist der Weg zur Außenwelt verschlossen«, sagte Tengel. »Allein die Frühjahrsschmelze kann ihn wieder freigeben. «
Silje hatte ein unangenehmes Gefühl, die meisten seiner Worte jedoch hatten auf sie eine beruhigende Wirkung.
»Nun bist du sicher, Silje. Niemand kann dir oder den Kindern etwas anhaben. «
Sie schaute hinunter auf die beiden Kinder, die halb verdeckt unter der Decke und den Fellen lagen, und empfand sehr große Dankbarkeit.
Schweigend setzten sie ihre Fahrt fort. Die Räder knarrten und wackelten nach all der Anstrengung, der sie ausgesetzt worden waren.
Da schien plötzlich ein Schatten über Silje zu fallen. Eine Riesenhand presste ihr Herz zusammen.
»Tengel! Was war das?«
Er streckte die Hand über die Karrenkante und nahm ihre. Er hatte einen seltsam dunkel glühenden Schimmer in den Augen.
»Was denn, Silje?«
»Ich hatte solche Angst. Es liegt etwas... etwas wach, etwas Böses an der einen oder anderen Stelle. Als ob mich jemand anstarrte.«
»Du spürst es also? Du bist wahrscheinlich empfindsamer, als ich dachte. «
Seine Hand war stark. Silje folgte seinem Blick und drehte den Kopf. Unterhalb des Weges, tief unten in einer Senke, stand ein Haus, das ihr vorher nicht aufgefallen war. Im Dämmerlicht lag es geduckt, niedrig und uralt dort.
»Geh niemals dorthin, Silje«, sagte Tengel langsam und eindringlich. »Niemals!«
»Ist es...?«
»Einer der bösen Nachfahren von Tengel, ja. Sogar zwei. Der Vetter meiner Mutter und die Schwester meiner Großmutter. «
Die letzten Worte flüsterte er, als falle es ihm schwer, sie auszusprechen.
»Die Schwester deiner Großmutter?«, flüsterte sie ungläubig. »Aber die muss doch unglaublich alt sein?«
»Ja, das ist sie.«
Die Antwort erfüllte sie mit nie gekannter Furcht.
»Bleib bei mir, Tengel«, flüsterte sie schnell. »Ich traue mich nicht, allein zu wohnen, nicht nachts. Ich bin doch neu hier
»Das wird gut gehen, du wirst schon sehen. «
»Gibt es... viele von Tengels Nachfahren?«
»Nein, im Moment nicht. Nur ein dünner Zweig stammt von ihm ab. Der Schwarze Tod hat viele mitgenommen, und die Pest von 1565 holte fast den Rest. Die beiden da unten – sie sind nicht Mutter und Sohn, keiner von ihnen hat Kinder gehabt. Du verstehst, niemand heiratet einen direkten Nachkommen des bösen Tengel. Die
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