Die Saga vom Eisvolk 03 - Abgrund
gelaufen.
Allmählich ging auf den beiden großen Gehöften alles wieder seinen geregelten Gang. Sol half nett und geistesabwesend bei der Behandlung der Patienten, verabreichte ihnen mitunter wirkungslose Arzneien und versprach ihnen vollkommene Besserung und das halbe Himmelreich dazu. Manchmal ging es gut, manchmal nicht, die Kranken jedoch liebten sie. Sie machte mehrmals Ausflüge in den Wald und unternahm ihre »Reisen« zum Blocksberg, doch die Nachwirkungen waren so fürchterlich, daß sie es lange bleiben ließ. Aber auch das war schwer auszuhalten, denn sie sehnte sich ständig nach der faszinierenden Satansgestalt. Auch wenn sich die Landschaft und die Episoden am Blocksberg veränderten, so war er stets derselbe, ein unheimlich suggestiver Mann mit genau dem dämonischen Stich, der Sol so sehr anzog. Er wurde bei jedem Mal schöner und erotischer. Vielleicht wurde der Abstand zwischen ihm und anderen irdischen Männern bedenklich groß. Dreimal war sie ihm nun schon begegnet, in schwindelerregender Ekstase, und nie verspürte beim Erwachen dann eine beständig zunehmende Leere. Dann weinte sie vor Machtlosigkeit.
Sie wußte, daß sie nach jedem Mal gespalteneren Sinnes war. Der Abgrund wurde für sie zum Grenzland, kennzeichnete die Trennungslinie zwischen ihren beiden Welten - und mehr und mehr wurde ihr klar, in welche Welt ihr Herz gehörte, wohin ihre Sehnsucht sich richtete. Das erschreckte sie mehr als sie sich selbst eingestehen wollte. Liv kehrte langsam wieder ins normale Leben zurück. Dennoch war es ein weiter Weg. Dag hatte mit ihr unbeschreiblich viel Geduld, und oft dachte er an den fatalen Augenblick zurück, als ihnen beiden klar wurde, daß sie wirklich keine Geschwister waren. Es war Liv selbst, die das Thema ansprach.
Sie saßen in Grästensholm am Fenster. Draußen dämmerte es Die Unterhaltung war eingeschlafen. Sie waren allein. Charlotte war unten auf Lindenallee.
»Was soll nur aus uns werden, Dag?« seufzte Liv plötzlich. Er zuckte zusammen. »Was meinst du damit?« »Du weißt, was ich meine.«
»Ja«, sagte er nach langer Pause. »Ich habe mich nur nicht getraut, es auszusprechen.«
Liv wartete. Sie hatte das Thema angeschnitten, nun war die Reihe an ihm.
»Willst du, Liv?« fragte er leise. »Willst du mich heiraten?« Sie wandte sich ab. »Das geht nicht so einfach«, brachte sie flüsternd hervor. »Wollen heißt nicht immer auch gleich können.« »Warum nicht?«
Heftig schüttelte sie den Kopf. »Ich kann darüber nicht sprechen, Dag. Ich kann nicht. Es ist zu … privat.« Er schaute sie prüfend an, doch sie wandte ihr Gesicht wieder von ihm ab.
»Aber du willst?« fragte er leise. »Mich heiraten?« Diesmal nickte sie heftig. Dag quälte sie nicht mehr. Es fiel ihr offensichtlich zu schwer.
Statt dessen ging er mit dem Problem zu Sol. Zur offenen und ehrlichen Sol, die stets bereit war, zu helfen. Er bat sie, zu versuchen, aus Liv herauszubringen, was sie daran hinderte, ihn zu heiraten.
»Zuerst ist es wohl unanständig früh nach dem Tod ihres Mannes«, sagte Sol wie aus der Pistole geschossen. »Das weiß ich. Aber ich kann warten.« Sol, die gerade beschlossen hatte, das gefährliche Blocksbergspiel aufzugeben, war dankbar, weil sie auf andere Gedanken gebracht wurde. »Natürlich werde ich sie fragen, lieber Bruder. Das ist das einzige, was Liv retten kann - dich zu heiraten. Warum bist du nicht schon längst daraufgekommen, du Dummkopf?« »Wärest du darauf gekommen?«
»Nein, wenn ich ehrlich sein soll, dann wäre ich nicht darauf gekommen. Ich habe uns immer als Geschwister im Kopf gehabt.«
»So ist es uns auch gegangen. Aber wir sind keine Geschwister, Sol.«
»Nein, Gott sein Dank nicht - um Livs willen. Ich wünsche euch alles Gute, kleiner Bruder, und ich werde die Wahrheit schon aus ihr herauskitzeln.«
Das tat sie auch. Sie teilten ein Schlafzimmer wie schon als Kinder, und eines Abends bemerkte Sol, daß Liv bereit war, hier über ihre schreckliche Ehe zu sprechen.
Sol hörte im Dunkeln der flüsternden Stimme ihrer Schwester.
»Unsere liebe Mutter hatte mir geraten, ihm all meine Liebe zu geben, ihn zu mir kommen zu lassen und ihn mit Freude zu empfangen und zu zeigen, daß ich seine Begierde teile. So habe ich es dann gemacht, Sol. Und ich bekam eine eiskalte Strafpredigt zu hören. Er sagte, daß sei unweiblich und daß ich mich zukünftig passiv zu verhalten hätte. Er wollte der Jäger, der Eroberer sein. Ich war seine Frau, sein
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