Die Saga vom Eisvolk 04 - Sehnsucht
»Dankeschön« zu verkneifen.
Sofort ging sie hinunter, um ein Bad zu nehmen und sich die Haare zu waschen. Ihre Hände zitterten so sehr, daß sie es fast nicht schaffte, das Wasser in den Bottich zu gießen. Sie mußte sich im Waschraum auf die Bank setzen. Dort schlug sie die Hände vors Gesicht und brach in heftiges Schluchzen aus.
Liv kam gerade mit einem Arm voller schmutziger Kleidungsstücke herein. Bestürzt schloß sie die Tür und fragte: »Aber Yrja, was ist denn los?«
Yrja, die nur noch im Hemd dasaß, konnte nicht antworten. Liv legte den Arm um sie und wartete, bis ihre Schwiegertochter sich etwas beruhigt hatte. »Ich habe solche Angst«, schluchzte Yrja. »Erzähl.« »Nein. Ich kann nicht darüber sprechen.«
»Was es auch ist, du schaffst das nicht alleine.« »Aber es geht nur Tarald und mich etwas an.«
Liv rührte sich nicht. »Hat er dich schlecht behandelt?« »Nein, nein, ganz und gar nicht!«
»Er ist mein Sohn, weißt du. Vielleicht kann ich helfen?« »Ich habe solche Angst… daß er meinen Körper abstoßend findet. Und daß ich nicht verbergen kann… daß ich… daß ich ihn liebe.«
Lieber Gott!, dachte Liv und schloß die Augen. Was hat mein unmöglicher Herr Sohn getan? Wie tief hat er dieses Mädchen nur gekränkt?
»Willst du damit sagen, daß ihr… noch nie richtig zusammen wart?«
Yrja schluckte die Tränen herunter. »Noch nie. Aber jetzt will er ein Kind haben. Heute abend soll es passieren. Ich will baden und mich hübsch machen und mein Haar frisieren, wie Frau Silje es mir gezeigt hat, aber ich kann doch meine Beine nicht verändern!«
Ihre Stimme wurde zu einem dünnen Piepsen, und wieder brach sie in Schluchzen aus.
Tarald, wie kannst du nur so grausam sein?, dachte Liv verzweifelt. Bist du nicht unser Sohn und der Enkel von Charlotte und Silje und Tengel? Woher hast du nur diese Herzlosigkeit und Unwissenheit? Von deinem Großvater Jeppe Marsvin? Oder von Charlottes unmöglichem Vater? Auf einmal wurde Liv wütend. »Jetzt hör mir mal zu, Yrja! Du bist tausendmal mehr wert als dieser oberflächliche Bengel, denk daran! Er sollte dir dankbar dafür sein, daß er zu dir kommen darf, er sollte sich glücklich schätzen für deine treue Liebe. Du liebst ihn schon eine ganze Weile, nicht wahr?«
»Schon seit vielen Jahren. Frau Silje hat es gewußt.« Ach, was für bittere Jahre müssen das gewesen sein, dachte Liv beklommen. Sogar schon vor Sunniva!
»Yrja, ich kann mich da nicht einmischen. Wenn ich jetzt zu ihm gehe und ihm erzähle, was du für ihn empfindest und was er für dich empfinden sollte, mache ich alles nur noch schlimmer. Aber wenn du dich morgen verletzt oder beleidigt fühlen solltest… Ja, dann kriegt er von mir eine Tracht Prügel, die sich gewaschen hat, auch wenn er ein erwachsener Mann ist. Glaub mir, ich weiß, was es heißt, in einer Ehe beleidigt zu werden. Ich habe fast dasselbe erlebt wie du - mit Laurents Berenius, und da war ich sogar noch jünger, als du jetzt bist. Jetzt bade erstmal, und dann werden wir sehen, was wir für dich tun können. Ich habe ein wenig Parfüm, und auch ein bißchen Cochenille-Rot für Lippen und Wangen. Du wirst so schön sein, daß mein beschränkter Sohn gar nicht mehr an die krummen Beine denkt.«
Yrja schniefte und lächelte zaghaft. »Ich danke Euch von Herzen, liebe Frau Baronin!«
»Nein, jetzt fällst du ja in deine alten Gewohnheiten zurück. Wir sagen doch schon lange du zueinander. Wir beiden Baroninnen, was?«
Yrja zupfte nervös an diesem und jenem im Zimmer, stellte jenes und dieses hierhin und dorthin, völlig planlos. Sie trug Charlotte von Meidens altes Brautnachthemd, das eigentlich einer wesentlich edleren Braut als Yrja zugedacht war. Ihr mittelblondes Haar hatte sie herabgelassen, hinten reichte es ihr bis zur Taille und vorne war es zu zierlichen Locken geformt. Liv hatte sie dezent geschminkt und sie mit Rosenparfüm besprüht.
Yrja hatte selbst den Eindruck, daß sie ganz hübsch aussah. Tatsächlich war sie noch niemals vorher so schön gewesen. Und dieses eine Mal hatte sie die Tür zu Kolgrims Zimmer zugemacht.
Es klopfte an der zweiten Tür, derjenigen zum Flur. Yrja zuckte zusammen und versuchte »Herein« zu sagen, brachte aber nur ein jämmerliches Wispern zustande. Sie riß sich zusammen und versuchte es erneut.
Wie gelähmt stand sie am Bett und nickte Tarald zu, als er hereintrat. Er betrachtete sie im Schein der Talglichter, die an den Wänden ringsherum
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