Die Saga vom Eisvolk 04 - Sehnsucht
hast natürlich recht, das tun wir. Mit einer Art verzweifelter Liebe, vermischt mit Sorge. Nein, Kolgrim, du darfst dem Pferd nicht in die Augen stechen. Komm jetzt herunter, es gibt gleich Essen.«
Das war ein Wort, das Kolgrim gut verstand. Er kam sofort runter.
Eigentlich verstand er sehr viel. Er besaß eine Art wortkarger Intelligenz, die sie ständig überraschte. Aber was er in seinem tiefsten Innern dachte und fühlte, wußte keiner. In diesem Sommer kriegten die Kinder im Kirchspiel Mumps. Kolgrim auch. Und nach ihm Tarald. Er wurde ernstlich krank, die Infektion hatte alle Körperdrüsen erfaßt, und Tarjei, der aus Tübingen heimgekommen war, behandelte ihn.
»Du hast Glück«, sagte Tarjei erschüttert. »Daß Yrja jetzt ein Kind erwartet, meine ich.«
»Was hat denn das mit meinem Mumps zu tun?« »Es wird das letzte Kind sein, das du jemals bekommst.« Tarald wurde blaß. »Woher willst du das wissen?« »Mumps kriegt man meistens als Kind. Erwachsene Männer, die sich anstecken, werden ernsthaft geschädigt.« Tarald blieb nachdenklich liegen, nachdem sein Cousin gegangen war. Sein letztes Kind… Wenn nur alles gut ging! Er hatte schreckliche Angst. Yrja ging es zur Zeit nicht besonders gut - ihr schiefer Rücken schmerzte, die Beine waren geschwollen, und dann mußte sie auch noch auf den Wildfang Kolgrim aufpassen …
Tarald staunte über sich selbst. Seine Liebe zu Sunniva hatte etwas von einem Schmetterlingsspiel an sich gehabt. Er hatte es geliebt, sie anzuschauen, sie auf Händen zu tragen und mit ihr zusammen in einer Phantasiewelt aus purer Schönheit zu leben. Sie hatten nie richtig miteinander geredet, sie kicherten und alberten herum und unterhielten sich in Kleinkindersprache, und Sunniva hatte die ganze Zeit eine Rolle gespielt, sie war süß und hilflos und eine ungebührlich geliebte junge Göttin - und weiß der Himmel, er war ihrer so überdrüssig geworden!
Mit Yrja dagegen konnte er über alles reden. Sie hörte immer zu und verstand alles. Sie verhöhnte ihn niemals, lachte nie über seine Ungeschicklichkeit oder seine Unschlüssigkeit, wenn er erkennen mußte, daß sein Verstand nicht ausreichte. Tarald empfand eine tiefe, zärtliche Zuneigung zu Yrja. Manchmal, wenn er draußen auf den Wiesen war, durchströmte ihn ein so warmes und inniges Gefühl für sie, daß er zutiefst berührt war und kaum noch atmen, schlucken oder klar sehen konnte. Was spielte es für eine Rolle, wie sie aussah? Sie war Yrja, seine Liebe, und zu Yrja gehörten nun einmal ein Paar krummer Beine, ein unförmiger Körper und ein schlichtes, anrührend freundliches Gesicht, und alles zusammen liebte er.
Das sagte er ihr oft. Zu wissen, daß seine Worte sie freuten, gab ihm ein sicheres Gefühl. Und all die Liebe, die sie ihm schenkte…
Tarald ahnte tief in seinem Innern, daß er es zum Großteil seiner Ehefrau zu verdanken hatte, daß aus ihm ein erwachsener, seelisch reifer Mann geworden war.
Mitten im größten Vorweihnachtstrubel kam Cecilie nach Hause. Lebhaft, ansteckend fröhlich und überglücklich, endlich für eine Weile daheim sein zu dürfen. Sofort war überall zu spüren, daß sie wieder da war. Grästensholm blühte auf, als hätte sie das ganze Schloß mit Blumen überhäuft. Auch Lindenallee erwachte zu neuem Leben, aber das kam daher, daß Tarjei zur gleichen Zeit aus Tübingen heimgekehrt war. Für ihn war die Heimfahrt viel leichter als für Cecilie, denn Großvater Tengel hatte ihm heimlich einen Großteil seiner Einnahmen aus seiner ärztlichen Tätigkeit zugesteckt. Nicht etwa, daß er seinen anderen Erben nichts hinterlassen hätte, aber Silje und er waren sich einig darüber gewesen, daß Tarjei eine große Zukunft hatte. Und dazu brauchte es Geld. Deshalb hatte Tengel seinem begabtesten Enkelkind zukommen lassen, soviel ihm nur möglich war. Außerdem hatten Tarald und Cecilie ja noch das von Meidensche Vermögen im Rücken, deshalb war es nicht besonders verwunderlich, daß Tengel Ares Familie ein bißchen großzügiger bedacht hatte.
Nun waren jedenfalls die beiden Begabtesten der Familie heimgekehrt, und alle freuten sich auf das Weihnachtsfest. Das sollte ziemlich ereignisreich werden.
10. KAPITEL
Cecilie war kaum durch das schön geschnitzte Portal von Grästensholm getreten, als sie auch schon von allen Seiten mit Fragen bestürmt wurde.
»Darf ich vielleicht erstmal meinen Umhang ablegen?« zwitscherte sie glücklich.
Es war ein sehr schicker Umhang aus
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