Die Saga vom Eisvolk 08 - Die Henkerstochter
unterwegs zur Hügelkuppe hinauf, es bewegte sich hierhin und dorthin, schnupperte, witterte.
Hilde merkte gar nicht, wie hart ihr Herz klopfte, so gebannt war sie.
Das Tier hatte die Kuppe erreicht und war jetzt deutlich zu sehen.
Der Schock packte sie mit eisiger Hand. Jetzt sah sie, warum es sich so merkwürdig bewegte. Es hatte nur drei Beine.
Ein zottiges Ungeheuer von Hund - oder wohl eher ein Wolf - mit einem langen, buschigen Schwanz. Es änderte die Richtung, kam auf Elistrand zu. In Hildes aufgestachelter Phantasie sah es so aus, als laufe die Bestie direkt auf sie zu.
Ihr ganzer Körper war wie erstarrt. Sie wollte jemanden herbeirufen, aber nur Elis Zimmer lag in der Nähe. Die anderen wohnten im oberen Stock, weit weg. Und Gabriella war so todmüde gewesen…
Bevor sie einen Entschluß fassen konnte, war ein gellendes Geräusch zu hören, ungefähr wie ein Schrei. Die Kreatur dort draußen erschrak und verschwand wieder im Wald.
Sie atmete auf. War das ein Traumbild gewesen, hervorgerufen durch den Mond, oder… ?
Hilde war dort oben im zweiten Stock sicher, in einem festen Haus, hinter soliden Fensterscheiben und einer verschlossenen Tür.
Aber es gab eine andere, die nicht in Sicherheit war. Die Hebamme befand sich auf dem Heimweg, nachdem sie einem neuen kleinen Menschen auf die Welt geholfen hatte. Sie war eine mürrische, resolute Frau. Hysterisches Geschwätz über Werwölfe bei Vollmond konnte sie nicht aus der Ruhe bringen.
Ihr Weg führte sie ein kleines Stück durch den Wald, aber weil der Mond so hell schien, konnte sie mühelos erkennen, wohin sie ihre Füße setzen mußte.
Seltsam, wie es heute nacht im Wald raschelte! Sie hörte es jetzt schon eine ganze Weile. Etwas folgte ihr, neben dem Pfad, schräg hinter ihr. Wenn sie stehenblieb, hörte auch das Rascheln auf. Ob es vielleicht nur von ihren Röcken kam, die über die Erde schleiften?
Sie machte ein paar Schritte und blieb abrupt stehen. Nein, ihre Röcke waren das nicht. Es war etwas, das nicht so schnell anhalten konnte wie sie. Schwere Pfoten hielten einen winzigen Moment zu spät inne. Pfoten? Unsinn!
»Was für ein Dummkopf hält die Leute auf diese Art zum Narren?« rief sie. »Komm heraus ins Licht, ich habe keine Angst vor dir!«
War das nicht ein Paar Augen, die sie dort im schwarzen Schatten sah? Augen, in denen sich das Mondlicht spiegelte? Jetzt durfte sie sich bloß nichts einreden! Aber sie saßen zu tief, um einem Menschen zu gehören. Und zu hoch für einen Dachs. Ein großer Hund?
Niemand im Kirchspiel hatte einen so großen Hund. Die Hebamme nahm einen Zweig auf und warf ihn in den Schatten unter den Bäumen. Ein dumpfes Knurren erklang als Antwort.
Da begann sie zu laufen. Es war weit bis zum nächsten Haus, sie fühlte sich plötzlich unbehaglich. Wölfe, hier?
Das war schon seit Jahr und Tag nicht mehr vorgekommen. Außerdem - das Biest war viel zu groß für einen Wolf. Jedenfalls für einen gewöhnlichen Wolf. Jetzt dachte sie schon wieder dummes Zeug.
Auf einmal bemerkte sie etwas aus dem äußersten Augenwinkel. Sie drehte den Kopf eine Winzigkeit - und da sah sie ihn. Er war auf den Pfad hinaus getreten und trabte schwerfällig und hechelnd hinter ihr her. Und sie sah, daß ein Hinterbein fehlte. Oder genauer gesagt: Er besaß nur ein Hinterbein, hatte offenbar nie mehr besessen.
Die Frau schrie auf und rannte in wilder Panik davon. Sie stolperte über ihre Röcke und versuchte, sie hochzuraffen, sie warf ihren Hebammenkoffer nach dem Untier, traf jedoch nicht.
Jetzt war sie draußen auf der Wiese. Oh Gott, mach, daß jemand kommt, betete sie inständig, halb von Sinnen vor Angst.
Und ebenso plötzlich, wie die furchtbare Kreatur aufgetaucht war, verschwand sie wieder - als sei sie durch irgend etwas verjagt worden. Aber die Hebamme konnte nichts entdecken - vielleicht durch ein Geräusch? Sie konnte es nicht sagen, denn sie hatte die ganze Zeit geschrien wie am Spieß.
Sie rannte ohne Pause, bis sie den nächstgelegenen Hof erreicht hatte.
Am nächsten Tag wußte es das ganze Kirchspiel.
Der Schmied hatte alle Hände voll zu tun, Silberkugeln zu gießen, sie waren das einzige, das bei solchen Ungeheuern Wirkung zeigte. Viele Bauern wollten eine für ihre Gewehr haben. Der Pastor predigte und mahnte, nicht abergläubisch zu sein, aber vergebens. Die Hebamme wußte, wovon sie sprach. Und hatte nicht auch die Tochter des Nachtmannes die Bestie gesehen? Mehrere Male sogar, das konnte der
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