Die Saga vom Eisvolk 09 - Der Einsame
was ihm aber nur bei zwei-drei Wörtern gelang. Der Stein war zu alt.
Er ging weiter, fand noch ein paar Grabplatten und stellte fest, daß die Kapelle wohl im 16. Jahrhundert aufgegeben worden war, aus welchem Grund auch immer. Wegen der Reformation vielleicht?
An der Tür drehte er sich noch einmal zur Kirche um und erwies seine tiefe, aufrichtige Reverenz. Nicht vor dem Heiligtum, von dem war ja fast nichts mehr übrig, sondern zur Ehre der hier Ruhenden. In feierlicher Hochstimmung ging er wieder hinaus in den weißen Tag. Auf dem Rückweg entdeckte er einen kleinen Greis, der vor seinem Bauernhaus Holz hackte. Mikael wußte, daß die Dorfbewohner sich am liebsten nicht sehen ließen. Der hier war sicherlich neugierig und redselig. Er grüßte freundlich und ging näher.
Der Alte starrte ihm entgegen, sagte nichts, lief aber auch nicht weg.
Mikael konnte seine Sprache nicht und versuchte es daher auf Deutsch: »Das gute Wetter hält wohl an.« »Ja, aber jetzt kommt noch mehr Schnee.«
Na bitte, sie konnten einander ja verstehen.
»Ich war dort oben bei der Kapelle. Warum wird die eigentlich nicht mehr benutzt?«
Der Alte sah weg. »Die war nicht so gut. Die Kirche ist größer.«
»Ja sicher, aber war das nicht die private Kapelle der Steierhorns? Es sieht so aus, als hätte man sie vor über hundert Jahren verlassen.«
»Das mußten sie wohl. Es hat zuviel Krach gegeben.« Mikael lächelte. »Was für einen Krach?«
Wieder sah der Alte in die Luft. »Das gibt mehr Schnee.« Der Wink war nicht schwer zu verstehen. Mikael wechselte das Thema. »Ihr habt das Dorf nicht verlassen wie alle die anderen?« »Nein, wo soll ich schon hingehen?« »Habt Ihr keine Angst vor den Russen?«
»Livland hat viele Herren gehabt. Der eine ist nicht schlechter als der andere.«
»Dem leeren Dorf nach zu urteilen, sieht es so aus, als fürchteten die Leute die Russen am meisten.« »Oh, jetzt sind nicht so viele weggegangen. Von hier ziehen dauernd Leute weg. Ist kein gutes Wohnen hier. Aber ich wohn so weit von der Hauptstraße entfernt, mir macht das nichts aus.«
Mikael setzte sich auf einen Sägebock, und der Alte ließ sich auf einem Hauklotz nieder, erpicht auf ein spannendes Gespräch.
»Was ist denn mit der Hauptstraße los?« fragte Mikael. Der Alte sprach zwar nicht perfekt Deutsch, konnte sich aber gut verständlich machen. Er dämpfte die Stimme. »Nicht, daß ich schon mal was gehört hätte. Aber viele andere haben das. Den Leichenzug meine ich.«
Hier ging man anscheinend umständlich und dramatisch ans Werk. Mikael hatte das Gefühl, daß von ihm eine Frage erwartet wurde. »Welcher Leichenzug?« »Das weiß man nicht genau. Kann sein der von Herrn Ingemund nach Peipus oder von Herrn Wilfred nach Tannenberg. Oder irgend ein anderer Vorfahre. Die Steierhorns sind schon immer große Krieger gewesen. Stolz wie der Teufel. Und außerdem: Es heißt, daß man ihre Heimkehr von der Schlacht hören kann. Wer im Spätsommer an einem regnerischen Abend draußen ist, kann die leisen Schritte von vielen Männern und Pferden hören, das Klappern und Jammern. Und in der Ferne manchmal das Dröhnen von Trauertrommeln. Aber sehen tut natürlich keiner was. Dann gehen sie zum Gut.« »Im Spätsommer? Ich weiß ja nicht viel über die Schlacht beim Peipus, die ist schon so lange her, aber war die nicht im Winter? Heißt es nicht, daß sie auf dem Eis gekämpft haben? Und die Schlacht bei Tannenberg hat am 15. Juni 1410 stattgefunden, das hat mein Pflegevater mir erzählt. Aber auch wenn das ganze etwas unheimlich ist, Angst braucht man doch davor nicht zu haben, oder?« Der Alte sah ihn von der Seite an. »Die Toten sind nicht gut. Man muß sich vor ihnen in acht nehmen, vor allem, wenn sie Gespenster sind.« »Tote können den Lebenden nichts antun.«
»Können sie nicht? Keine sichtbaren Wunden, nein. Aber tiefe, ätzende Wunden in der Seele. Schwermut, junger Mann. Das ist eine ernste Krankheit. Darum flüchten die Menschen aus dem Dorf.«
»So, die Steierhorns haben nicht genug Leute?«
»Doch, der junge Herr auf dem Steierhorngut ist ein guter Mann. Aber im Dorf wohnen keine Leute mehr. Da sind die weggezogen. Jetzt wohnen sie im Birkenwald.« Unbewußt sah Mikael zum Birkenwald auf der anderen Seite der Ebene hinüber. Aber die Häuser standen im Wege, er konnte noch nicht einmal die Ebene sehen. Er selbst würde Graf Steierhorn ja nicht gerade als jung bezeichnen, aber alles war relativ und kam wohl darauf
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