Die Saga vom Eisvolk 09 - Der Einsame
dichter um seinen Körper. Er wagte es nicht, wieder einzuschlafen.
Die kleine schwedische Streitmacht hatte zu wenig zu tun, die Männer hatten einfach zuviel Müßiggang. Seine Ungeduld nach einem Wiedersehen mit Birgitte trieb Mikael nächsten Tag viel zu früh auf den Weg. Auf seiner Wanderung durch das Dorf sah er ein, daß er so früh nicht beim Gut auftauchen konnte, schon gar nicht im Hinblick auf die Steierhorns, die anscheinend lange schliefen. Er verlangsamte seine Schritte und suchte etwas, womit er sich die Zeit vertreiben konnte. Schon vor einiger Zeit war ihm ein kleiner Turm aufgefallen, der in der Nähe des Gutes in den Himmel ragte. Ein Kirchturm, wie er hier in den livländischen Dörfern oft auftauchte. Die eigentliche Kirche lag mitten im Dorf. Dieser Turm sah mehr aus wie eine Kapelle, so klein war er. Er stand innerhalb des Gutsgeländes. Große Güter hatten ja oft eigene Kirchen. Zu dieser führte kein Weg, und die Fenster sahen ihm leer entgegen. Mikael meinte zu erkennen, daß aus der einen Mauer Steine herausgefallen waren.
Alte Gebäude hatten ihn schon immer interessiert, und deshalb wollte er sich diese Kapelle einmal näher ansehen.
Er mochte nicht über das Gut gehen. Das war doch zu unverschämt, einfach durch die Pforte zu trampeln und den Park zu durchqueren.
Soviel er sehen konnte, gab es einen kürzeren Weg, der an zwei kleinen Bauernhäusern vorbeiführte. Nun, das machte wohl nichts, denn die waren sicher genauso verlassen wie das restliche Dorf.
Niedrige Häuser mit Dächern, die fast bis auf die Erde reichten. Von dem einen stieg Rauch auf, also wohnte doch jemand dort. Mikael ging still vorbei und sah immer geradeaus. Aus den Augenwinkeln erahnte er fremde Blicke, die ihm folgten.
Er mußte über eine alte Steinmauer klettern, und dann war er auf dem Gut bei der Kapelle.
Das kleine Kirchengebäude war verfallener, als er gedacht hatte. Jetzt sah er das Gut von einer anderen Seite, ziemlich nahe. Auch von hier aus vollkommen stilrein. Vor seinen Füßen lag unberührter Schnee. Er näherte sich der Kirchentür. Links und rechts von ihm waren Spuren von Gräbern zu sehen. Nicht viele, und keine Kreuze. Mikael fragte sich, ob die hier Begrabenen griechisch-orthodox oder römischkatholisch waren. Protestanten jedenfalls nicht, dafür waren die Gräber zu alt. Die Kapelle hatte keine Tür, nur eine breite Bohle stand vor der Öffnung um zu verhindern, daß der Schnee hineinwehte. Mikael schob die schwere Bohle zu Seite und betrat die sehr kleine Kapelle.
Innen wirkte sie nicht so verfallen, nur war das ganze Inventar entfernt worden, und es machte alles einen ziemlich nackten Eindruck. Es war noch gut zu sehen, wo Altar und Kanzel gestanden hatten, aber es war nichts mehr vorhanden. Schnee war durch die Fenster hereingewirbelt und lag in kleinen Wehen auf dem Boden, auf dem kaum jemals Bänke gestanden hatten. Diese Kapelle mußte aus der Zeit stammen, als man entweder stand oder auf dem Boden kniete.
Mächtige Grabplatten waren in den Kirchenboden eingelassen. Sicherlich ruhten hier die früheren Gutsbesitzer. Mikael hockte sich vor der imponierendsten Platte nieder und bürstete den Schnee mit den Händen weg, Die Schrift war wohl sonst ziemlich schlecht zu lesen, aber weil er den Schnee von der Oberfläche weggewischt hatte, blieben Reste in den Vertiefungen liegen, und die ausgemeißelten Buchstaben traten jetzt klar hervor. Es war ein schwieriger Text, den Mikael jetzt flüsternd buchstabierte, nachdem er die geschnörkelten Zeichen entziffert hatte.
»Graf Huilfried von Steijerhorn… Aha, hier haben wir also Ritter Wilfred«, murmelte er vor sich hin. »Und was steht hier? Lateinisch? Requiescat… vict… man… Nein, das ist zu undeutlich, keine Ahnung was das bedeutet, das überspringe ich. Gnadige… soll wohl Gnädige Magda von Steierhorn sein, ja, da ist ein großes M… Was steht da? Geboren Auchenfelder. Sicher auch ein vornehmes Geschlecht. Anno Domine MCDX. 1410, ja das stimmt, das ist das berühmte Paar. Der Held von Tannenberg und seine treue Ehefrau. Sie haben ihn also nach Hause überführt, nicht schlecht.«
Den profanen Gedanken: Muß der gestunken haben, unterdrückte er so sehr, als hätte er ihn nie gedacht. Vor dem Chor entdeckte er einen noch imponierenderen Grabstein. Mikael wischte auch hier den Schnee fort. »Aha, da haben wir den Vorfahren, der beim Peipus gefallen ist«, flüsterte er. Auch hier versuchte, er die Schrift zu entziffern,
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