Die Saga vom Eisvolk 09 - Der Einsame
Sie konnte auch keine Türen öffnen oder etwas anzünden. Aber er, er konnte es für sie tun.
Birgitte hatte sie nicht gesehen, als sie der Dame auf dem Weg zum Haus begegneten. Kein Familienmitglied hatte sie gesehen, niemals. Wahrscheinlich hatte in den zweihundertfünfzig Jahren, in denen sie in der kleinen Kapelle geruht und ihr Geist über den Besitz gewacht hatte, überhaupt niemand gesehen. Nur Mikael. Mikael - vom Eisvolk.
Kein Wunder, daß er in ihrer Nähe immer gefroren hatte. Kein Wunder, daß sie auf der wackeligen Galerie stehen konnte, ohne daß diese unter ihr zusammenbrach. Mikael war ganz sicher, daß sie da den Tod ihrer Verwandten herbeigewünscht hatte. Aber das Attentat war mißglückt. Offensichtlich war sie mit dem richtigen Besitzer zufrieden, den man zum Sterben eingesperrt hatte. Mikael widmete ihr einen versöhnlichen Gedanken. Trotz allem hatte er zwei Menschenleben retten dürfen, auch wenn er beinahe zwei andere ausgelöscht hätte.
Dieser eiskalte Windzug durch das Haus… Das Feuer, das plötzlich entstand. Das war ihr Werk, das konnte er beschwören, auch wenn er nicht zu sagen vermochte, wie. Denn sie würde kaum ihr geliebtes Gut in Brand stecken. Nein, das mußte wohl eher ein Zufall gewesen sein. Jagende Gedanken. Die Grübeleien brachten ihn zur Verzweiflung, das ging alles über seinen Verstand. In seinem Kopf drehte sich alles. All dieses Unfaßbare, das ihm in der Nacht passiert war, machte ihn fast krank. Er hatte die verhaßte Unterkunft erreicht und schob den Hund unter seinen Waffenrock. Die Wache rief ihn an, und er antwortete.
Der Wachtposten war nur ein einfacher Soldat, der natürlich nichts zu sagen wagte. Aber man konnte deutlich sehen, was er von einem Offizier hielt, der weiß im Gesicht, als wäre er dem Tod persönlich begegnet, und zitternd vor Kälte, bei Sonnenaufgang nach Haus kam.
Mikael betrat das Lager, wo alle gerade am Aufstehen waren. Er beantwortete ihre Grüße mit einem unverständlichen Murmeln und warf sich auf sein Bett. Als Offizier war ihm eines der Betten im Haus zugeteilt. Die Mannschaften lagen in schweißtriefenden Reihen auf dem Boden.
»Was ist los mit dir?« fragte sein nächster Bettnachbar, ein Leutnant.
»Ich weiß nicht«, antwortete Mikael. Verwundert sah er auf seine zitternden Hände nieder.
»Wo bist du denn die ganze Nacht gewesen? Und was zur Hölle hast du da? Einen Hund?
Mikael zog den Hund zu sich heran. »Das ist meiner. Der hat nur mich. Nehmt ihn… mir nicht weg!«
»Was für ein elendes Vieh. Willst du den etwa behalten?« »Das ist meiner, das ist meiner«, wiederholte Mikael hitzig und stützte sich auf den Ellbogen. »Ein Leben! Verstehst du! Ein Leben, das man beschützen kann in dieser Hölle von…«
Der Kamerad hatte den Raum mit schnellen Schritten verlassen. Mikael blieb am ganzen Körper zitternd liegen und streichelte den kleinen Welpen mit heftigen, unkontrollierten Bewegungen.
Kurz darauf kam der Leutnant mit dem Oberkommandanten und dem Feldscher zurück.
»Was geht hier vor?« fragte der Major. »Was ist mit dir los, Mikael?«
Er konnte nicht antworten. Ihm klapperten die Zähne, und er starrte sie mit abwehrbereiten Augen an. Den Hund sollte ihm niemand wegnehmen.
»Nun reiß dich mal zusammen«, sagte der Major. »Gerade haben wir erfahren, daß die Truppen des Zaren am Peipus stehen. Wir müssen sofort nach Polen aufbrechen, um König Karl Gustav zu warnen, und werden dann am Feldzug in Polen teilnehmen.«
Ein Dröhnen und Brausen verbreitete sich in Mikaels Kopf, seine Gedanken drehten sich wie ein Mühlstein, seine Brust schmerzte. Noch mehr Monate, vielleicht Jahre, sollte er dieses Leben führen müssen, das ihn von Anfang an mit Abscheu erfüllt hatte. Fort von diesem Dorf, ich will - ich muß fort von diesem Dorf! Ja, aber dann komme ich ja fort von hier. Aber in den Krieg? Schmutz, Ungeziefer, Krankheiten, Krieg, Tod, Zoten, Menschen die mich nichts angehen direkt neben mir, Befehle, Befehlen gehorchen, Befehle geben, kein Platz, kein Platz für mein eigentliches Ich, nicht wissen, was ich mit meinem Leben anfangen will, meinem Pflegevater gehorchen, versagen, wertlos, ein Leben ohne Sinn, am falschen Platz, spreche mit Gespenstern, Birgitte - nichts, Rücksicht nehmen, Krieg, Krieg, Krieg … »Nein!«
Von irgendwo her erklang ein durchdringender Schrei, er schrie und schrie, bis ihm die Lunge weh tat, er kämpfte in einer Art Brunnen gegen Wesen, die ihn nach unten drücken
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