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Die Saga vom Eisvolk 09 - Der Einsame

Die Saga vom Eisvolk 09 - Der Einsame

Titel: Die Saga vom Eisvolk 09 - Der Einsame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margit Sandemo
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Phänomen, das er noch an keinem anderen Ort vernommen hatte. Es war hier zu Hause, und nur hier, auf den sumpfigen Feldern am Peipus.
    Der Hund zappelte und wollte runter. Mikael setzte ihn in den Schnee um zu sehen, ob er ihm folgen würde. Er erstarrte mitten in der Bewegung. Sein Herz raste in schmerzenden Schlägen. Er starrte in den Schnee. Er richtete sich wieder auf, während der Schreck wie eiskalte Strahlen durch seinen Körper jagte.
    Die Frau war in den Hof eingebogen und nicht mehr zu sehen. Aber im Schnee, der weiß und sauber auf dem Weg lag, gab es nur eine einzige Spur. Seine eigene.

6. Kapitel
    Im frühen Morgengrauen jagte Mikael nach Hause in seine Unterkunft, gehetzt vom wahnsinnigen Schlagen seines Herzens.
    Nicht denken, nicht denken, nicht denken, ermahnte es ihn.
    Nach Hause? Was war sein Zuhause? Der Bauernhof, den die schwedische Wachmannschaft besetzt hatte? Dort drängten sich alle zusammen, Offiziere und Mannschaften, mit einfachen Betten in allen Räumen, mit Ungeziefer und kalten Fußböden. Der Hund in seinen Armen winselte.
    Zuhause? Was war das eigentlich, Zuhause! Das Wort sagte ihm nichts. Er hatte vergessen, was es bedeutete. O Gott, wie er dieses Dorf haßte! Ihm war, als sei er auf ewig verdammt, hier zu leben. Als werde er nie von hier fortkommen.
    Auch wenn er es gar nicht wollte, schlichen ihm lautlose Gedanken und Vorstellungen nach und trieben ihn vorwärts. Weg, nur weg von dem Gut, schnell!
    Keuchend und völlig erschreckt ging sein Atem. Nur nicht denken, nicht denken, aber so schnell er auch lief, die Gedanken holten ihn trotzdem ein. Wieder winselte der Hund in seinen Armen, und er hielt ihn nicht mehr so verkrampft fest.
    »Armes kleines Kerlchen«, flüsterte er. »Armes kleines Kerlchen!«
    Aber es half ihm auch nichts, sich auf den Hund zu konzentrieren.
    Darum also, dachte er. Darum hat sie gefragt, wer ich bin. Ich konnte sie sehen! Das ist ihr wahrscheinlich noch nie vorher passiert. Mein Gott, wer bin ich?
    Das Eisvolk… Was hatte Großvater Are vom Eisvolk erzählt?
    Das ist nicht wahr, was ich da erlebt habe. Ich habe alles nur geträumt.
    Aber das Gut liegt doch da. Ich weiß, daß es da hinter mir liegt. Wenn ich mich umdrehe, kann ich es in dem weißen Birkenhain liegen sehen, mit schreienden Seevögeln, die sich an das Binsenufer des Peipus verirrt haben. Dieser unermeßlich schöne Gutshof, den sie so liebte, vornehm zurückgezogen vom Dorf. Dieser unheimliche, fürchterliche Gutshof. So sah der sicher nicht aus, als sie noch lebte. War kleiner. Aber der Kern war wohl noch immer wie früher. Die Halle, der Rittersaal - war es nicht so? Dort muß sie gestanden haben, als der Bote mit der Nachricht vom Tode Ritter Wilfreds bei Tannenberg sie erreichte. Vielleicht ist sie dann zur Hauptstraße gegangen, um dem Trauerzug entgegen zu gehen. Vielleicht hat sie es damals wirklich gehört, das Klappern der Waffen und Rüstungen, diesen stillen, von Trauer erfüllten Todesmarsch. Soldaten, die mit ihrem gefallenen Heerführer nach Hause kommen. Die Frau, die ihren Ehemann erwartet…
    Es waren nicht nur Seevögel, die über dem Gut schrien. Er konnte sie noch immer hören - aber er hörte auch etwas anderes, ein jammerndes Klagen, das von überall und nirgends herzukommen schien.
    Danach mußte sie ihre ganze Kraft darauf verwandt haben, das Gut gegen die anstürmenden Sieger zu verteidigen. Und nachdem ihr das geglückt war, war sie am Ende ihrer Kräfte. Nun endlich durfte sie trauern und brauchte nicht mehr zu leben, denn es gab nichts mehr, wofür das Leben sich lohnte.
    Doch, jetzt glaubte er daran. Daß man vor Kummer sterben kann, einfach hinwelken. Sie konnte es. Die unendlich willensstarke Frau in Schwarz. Magda von Steierhorn…
    Er hatte ihren Namen nicht laut genannt. Aber es war, als hänge er wie ein trauernder, verzweifelter Schrei über dem menschenleeren Dorf.
    Noch einmal war ihr geliebtes Gut in Gefahr gewesen. Von innen her, durch Raubritter, Vandalen. Machtlos hatte sie zusehen müssen. Denn sie war ein Nichtmensch, eine Tote, die der Tod nie geholt hatte. Dann war er, Mikael Lind von Eisvolk, gekommen. Sie hatte auf dem Balkon gestanden und gesehen, daß er sie sehen konnte! Am nächsten Tag hatte sie zu ihm gesprochen. Und er hatte geantwortet! Kein Wunder, daß sie überrascht war!
    Und da begann sie, ihn auszunutzen. Er war jung und stark und ritterlich genug, den Launen einer Dame zu gehorchen.
    Sie konnte keine Pfosten verschieben.

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