Die Saga vom Eisvolk 09 - Der Einsame
fest, daß sie unruhig auf ihn gewartet hatte.
Liebste Anette.
Rate mal, wo ich jetzt bin! Auf Seeland! Seiner Majestät ist etwas Unglaubliches gelungen: Am 30 Januar dieses Jahres, 1658, ist er mit der Armee übers Eis gegangen. Erst über den Kleinen Belt nach Fünen, dann weiter nach Langeland und Lolland, und jetzt, knapp zwei Wochen später, stehen wir auf Seeland. 6 000 Reiter und 2 500 Mann zu Fuß hatte er mit. Welch ein phantastischer Anblick, dieser lange Zug über das Eis. Onkel Gabriel hat selbst den Schlitten des Königs übers Eis gefahren. Welch ein Glück, daß es plötzlich so kalt wurde, sonst wären wir nicht hier. Ich bin mit sehr gemischten Gefühlen hier, Anette. Verwandte von mir leben hier, und der junge Tancred Paladin war möglicherweise bei den Truppen, die wir auf Jütland besiegt haben. Es tut mir in der Seele weh. Ach wie gerne würde ich sein Heim, Gabrielshus, besuchen. Es ist mein einziger Wunsch, während ich hier in dem kalten Haus sitze und Dir schreibe. Aber es geht nicht. Nicht, weil ich ein Mustersoldat bin, aber über gewisse Ehrbegriffe verfüge ich doch. Sonst wäre ich genauso zu tadeln, wie ein hochstehender Däne in der Nähe unseres König. Corfitz Uhlfeldt heißt er. Für König Karl Gustav ist er natürlich sehr wertvoll, denn er weiß alles über sein altes Vaterland. Wie kann er nur. Es sieht so aus, als hasse er den Dänenkönig und wolle sich an ihm rächen, genauso wie seine Frau Leonora Christine sich an der Königin rächen will. Meine Situation ist ja etwas anders, halb Norweger, halb Deutscher und aufgewachsen in Schweden. Aber ich kann doch Schweden nicht verraten, wo es so viel für mich getan hat. Wo mein Herz zu Hause ist, das behalte ich für mich.
Nein, die Sache mit dem einzigen Wunsch war nicht richtig. Ich habe Sehnsucht nach Euch, nach meiner kleinen Familie. Es beruhigt mich, daß Ihr in Schweden in Sicherheit seid. Es ist lieb von Dir, daß Du mir bei meinen Schwierigkeiten helfen willst. Je näher wir einander kommen, um so schwieriger wird es für uns, miteinander zu sprechen. Aber in diesem Moment glaube ich, daß Du mich nicht verstehen würdest. Du stehst mir jetzt näher als je zuvor. Aber das haben andere auch erlebt. Entfernung führt die Menschen oft zusammen.
Liebe Frau, wie soll ich mein nächstes Bekenntnis nur in Worte fassen? Ich wage es nur, weil zwischen uns solch eine Entfernung liegt. Wir wollen einander keinen Zwang auflegen. Aber Tatsache ist, daß ich vor ungefähr zwei Wochen im Vorbeigehen eine Stimme hörte, wahrscheinlich von einem französischen Söldner. Er hatte jedenfalls den gleichen Tonfall wie Du. In dem Augenblick wurde ich von einer Sehnsucht nach Dir ergriffen, die mich glücklich machte. So steht es um mich, Anette. Vergiß es ruhig wieder, aber ich mußte es Dir schreiben.
Ich sagte einmal, daß man einen Brief bereuen könnte, erinnerst Du dich? Ich weiß nicht, ob es mir so gehen wird, aber ich bitte Dich, diesen Brief zu respektieren. Verbrenne ihn, vergiß ihn oder verstecke ihn!
Was soll ich von meiner Seelenqual berichten? Ich verstehe sie ja selbst nicht. Einsam und verschlossen bin ich immergewesen, konnte mich anderen Menschen nie mitteilen. Ich bekomme keinen Boden unter den Füßen, verstehst Du, die Welt wird mir irgendwie unter den Füßen weggerissen. Rein materiell gesehen geht es mir gut, seit meiner Kindheit sind alle außerordentlich freundlich zu mir gewesen. Aber zu wissen, daß ich nicht am richtigen Platz im Leben stehe, war schon immer eine große Qual für mich. Ich schaffe nichts, bin niemandem zur Freude. Ich möchte Nähe und Gemeinsamkeit mit und für jemanden empfinden!
Als Anette diese Zeilen las, begann sie leise zu jammern. »Armer Mikael.«
Nur einmal habe ich dieses Gefühl gehabt: Als ich meinen Verwandten Tancred traf. Trotz unserer unterschiedlichen Veranlagung, er lebhaft und munter, ich schwermütig wie immer, habe ich die Stimme des Blutes gehört. Verstehst Du das?
Aber in den letzten Jahren ist in meinen Grübeleien etwas Neues aufgetaucht, etwas, das mir angst macht. Ich bin dabei, in etwas mir Unverständliches zu versinken, bekomme so eine Art von Anfall - Du hast es ja an meinem letzten Abend zu Hause erlebt. Etwas will mich verschlingen, eine Finsternis, etwas zieht mich zu sich hin, und es ist so absolut böse. Geisteskrank, sagten Deine Augen, und daß Du Angst davor hast. Ich glaube nicht, daß es so ist, Anette, aber ich weiß es nicht. Ach, ich
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