Die Saga vom Eisvolk 09 - Der Einsame
für mich einpacken?«
»Das mach' ich«, versprach Mikael gerührt. »Ich werde Mutter einen Brief schreiben, damit sie nicht beunruhigt ist. Wir sind ja bald wieder zurück.«
Dominic antwortete ihm nicht. Mikael fragte sich, wieviel das kleine Kerlchen eigentlich verstand. Oder besser gesagt, spürte.
10. Kapitel
Noch bevor die Sonne über den östlichen Himmelsrand gekommen war, berührte Mikael leicht die Schulter seines Sohnes. Dominic sah ihn schlaftrunken an, fand sich aber sofort zurecht. Mikael half ihm, sein Hemd anzuziehen. Sein Sohn war eben doch noch sehr klein.
»Wir haben keine Zeit fürs Frühstück«, flüsterte der Vater. »Aber ich habe Proviant und deine Kleider in die Satteltaschen gepackt.« »Habt Ihr Mutter geschrieben?«
»Ja, hier ist der Brief. Ich lege ihn auf dein Bett.« Beruhigt nickte der Junge. Der Brief sah lang und zuverlässig aus.
Das Problem war Troll. Sie waren gezwungen, ihn draußen in der Küche mit einem großen Stück Fleisch zu bestechen, damit er nicht aus lauter Verzweiflung darüber, daß er nicht mit durfte, zu jaulen anfing. Mikael hockte sich nieder und drückte den Hund eine Weile an sich. Dann schlichen sie hinaus. Mikael half seinem Sohn auf das fertig gesattelte Pferd, und sie ritten vorsichtig vom Hofplatz. Eine lange, lange Reise begann.
Mikael zog Dominic dichter an sich heran und betete im Stillen, daß er selbst im Laufe der Reise keinen Anfall haben möge, fürchtete aber, daß genau das geschehen werde. Die Anfälle kamen immer öfter und waren kein schöner Anblick. Auch in der zweiten Nacht in Anettes Bett hatte er so einen Anfall gehabt und ihn mit aller Kraft zu dämpfen versucht, damit sie nicht aufwachte. Die Finsternis hatte ihn jetzt erreicht, füllte den ganzen Himmel der diffusen Leere, wie ein Riesenmaul, das ihn verschlingen wollte. Und das, was einmal in der Ferne geleuchtet hatte, stand jetzt in der Mitte des Ganzen. Jetzt wußte er, was es war. Aber einen Namen wagte er dem nicht zu geben.
Außer seinem Anfall war in jener Nacht nichts geschehen. Alle seine Sachen waren in das große Schlafzimmer gebracht worden, und Dominic war in sein altes Zimmer gezogen, ganz ohne Proteste, sondern mit einem kleinen, unergründlichen Lächeln um seine schön geschwungenen Lippen. Mikael fragte sich oft, was dem kleinen Jungen eigentlich durch den Kopf ging.
Er selbst wußte nicht, wie er sich Anette gegenüber verhalten sollte. Ihre gehobene Stimmung von Henris Besuch hielt an, sie redete ununterbrochen und wurde nur langsam stiller. Im Bett hatte Mikael seine Hand ausgestreckt und zärtlich ihre Schulter gestreichelt. Erst als er merkte, wie ihr Körper sich versteifte, gab er auf. Sein Anfall war erst viel später in der Nacht nach einem Traum gekommen, und er war sicher, daß sie nichts gemerkt hatte.
Er fragte sich, was sie zu seinem Brief sagen würde. Erst viele Stunden später, nachdem die beiden schon weit von zu Hause entfernt waren und in einem Wirtshaus gefrühstückt hatten, erwachte Anette.
Mikael war nicht da. Sie lag noch eine Weile im Bett und streckte sich, aber da im ganzen Haus kein Ton zu hören war, stand sie auf und zog sich an. Ihr fiel ein, daß Mikael den Dienstboten bis zum Mittag frei gegeben hatte. Sie wußte nicht warum, und wollte sich auch nicht einmischen. Und die beiden anderen, Vater und Sohn? Sie waren wohl draußen unterwegs, das taten sie ja gerne.
Von der Küche her erklang Gebell. Troll? Hatten sie denn Troll nicht mitgenommen? Das war doch einer der wichtigsten Gründe für ihre Spaziergänge, daß der Hund Auslauf hatte.
Sie ließ einen überaus erleichterten Hund aus der Küche und blieb stehen. Wo um alles in der Welt waren sie?
Schnell lief sie hinauf in Dominics Zimmer.
Es war leer, aber das hatte sie ja auch erwartet. Mitten auf dem Bett lag ein Brief. Anette stand auf dem Umschlag in Mikaels schöner Handschrift.
Ein unbehagliches Gefühl breitete sich in ihrem Inneren aus und versetzte ihr einen Stich ins Herz. Sie holte tief Luft und begann zu lesen.
Liebste!
Um allen eine herzzerreißende Szene zu ersparen, reisen wir in aller Stille nach Norwegen, Dominic und ich. Wir müssen, verstehst Du? Die Zeit läuft mir davon, und ich muß unbedingt meine Verwandten treffen. Ich möchte so gerne Dominic dabei haben, damit er nicht genauso aufwächst wie ich, ohne Wurzeln, gejagt und ohne zu verstehen, warum.
Beunruhige Dich nicht, er kommt wieder zurück. Ich liebe meinen Sohn, das weißt Du,
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