Die Saga vom Eisvolk 09 - Der Einsame
und will ihm nichts Böses. Ich werde dafür sorgen, daß ihn auf dem Heimweg eine richtige Eskorte begleitet. In wenigen Wochen ist er wieder bei Dir. Denn aufwachsen soll er bei Dir, so herzlos bin ich nicht, daß ich ihn Dir für immer wegnehme. Ich selber komme nicht wieder zurück, geliebte Anette. Nicht nur, weil die Finsternis mich jetzt ganz verschling, sondern auch Deinetwegen. Ich habe gestern gesehen, wie glücklich und frei Du zusammen mit Henri bist. Da ist mir aufgegangen, daß ich Dich mit meiner Schwermut in einen Käfig gesperrt habe, wo Du in einer
Ehe gefangen bist, die nur eine Komödie ist. Und, meine Liebe, nichts ist mißglückter als eine mißglückte Komödie. Es ist besser so, Anette. Meine Liebe konntest Du nicht beantworten, und als Katholikin kommt eine Scheidung für Dich nicht in Frage. Als Witwe aber kannst Du, wenn Du willst, wieder heiraten. Gestern abend fragtest Du, warum ich nachts die Fenster verhängen müßte. Zwar hilft es weder Dir noch mir, wenn ich es jetzt erzähle, aber Du hast eine Antwort verdient. Ich habe Träume, böse Träume, die mit meinen Erlebnissen in Livland zusammenhängen, und von denen ich nichts erzählen mag. Aber wenn ich aus diesen Träumen erwache und die nackte Glasfläche sehe, dann ist mir, als sähe ich Hände, die vergebens versuchen, durch die Scheibe zu dringen, und ich sehe ein weißes Gesicht mit großen suchenden Augen - und ich weiß nicht, ob ich genügend Widerstand leisten kann, oder aufstehe und öffne. Und das darf ich nicht! Ach, Anette, das ganze ist so dumm, es ist ja niemand da draußen, aber mein verwirrter Geist funktioniert nicht mehr so, wie er soll. Es ist zum Verzweifeln und tut mir so leid!
Meine Liebste, ich hatte Dir so viel Liebe zu geben. Aber wir haben beide durch eine strenge und wohlgemeinte Erziehung, die nicht für uns geeignet war, unheilbaren Schaden erlitten. Es wird Dir gut ergehen, und man wird sich um Dich kümmern, das weiß ich. Bitte grüße Marca Christiana und Onkel Gabriel von mir! Ich hatte dieses Mal keine Zeit, sie zu besuchen - ach, Onkel Gabriel ist ja noch immer in Dänemark, aber Marca Christiana… Sag ihnen meinen Dank für alles, was sie mir in meinen einsamen Jahren gewesen sind!
Leb wohl, Geliebte, achte gut auf Dominic, damit er ein glücklicher und freier Mensch wird!
Dein Mikael.
Ein stummer Schrei stieg in Anettes Innere auf.
»Nein! O nein«, flüsterte sie jammernd. »Das stimmt doch nicht! So nicht! Mikael, was hast du getan?« Und fügte im nächsten Augenblick hinzu: »Und was habe ich getan? O Mikael!«
Eigentlich war es ein Wunder, daß sie nicht zuerst an Dominic dachte.
Planlos lief sie durch alle Räume, gequält von einem Weinen in ihrer Brust, das sich keinen Ausweg verschaffen konnte. Sie lief die Treppe hinunter, lief ohne Mantel hinaus in den kühlen Frühling, lief so schnell sie konnte hinüber zum Schloß Mörby, den Brief noch immer in der Hand.
Nach einer Weile begann es in ihrer Brust und den Ohren heftig zu klopfen. Aber zur Umkehr war es jetzt zu spät. Sie wurde langsamer, ihr schmerzender Atem ging schwer, und mit über dem Kopf gezogenen Schal erreichte sie den Hof.
Da erst entdeckte sie, daß Troll ihr gefolgt war, obwohl er wegen der Hunde im Schloß eigentlich nicht mit nach Mörby durfte. Weinend versuchte sie, ihn nach Hause zu jagen, wo sie doch gerade jetzt zu Mikaels und Dominics Hund nicht hart sein wollte.
Endlich schien der Hund sie zu verstehen. Er blieb am Tor stehen, ein bemitleidenswertes kleines Wesen mit dem Schwanz zwischen den Beinen und hängenden Ohren, die eine Vorderpfote traurig erhoben, und mit verständnislosen Augen. Anette versuchte, ihm aufmunternd und abwehrend zugleich zuzuwinken. Es gelang ihr nicht ganz.
In der Halle von Schloß Mörby schlug ihr eine behagliche Wärme entgegen. Sie bat darum, die Gräfin sprechen zu dürfen.
Marca Christiana war noch nicht aufgestanden. Jetzt, wo Gabriel Oxenstierna nicht zu Hause weilte, lag sie morgens manchmal lange im Bett. Nachdem Anette um ein schnellstmögliches Gespräch gebeten hatte, setzte sie sich erst einmal hin. Vor lauter Nervosität biß sie sich in den Daumen.
Die zwei Söhne des Schlosses tauchten auf, der zwölfjährige Gustav Adolf und der vierjährige Gabriel. Zwischen den beiden lag ein schmerzlicher Altersunterschied. Bei ihrem Anblick wurde man jedesmal an die zwei dazwischen erinnert, die an einer so einfachen Krankheit wie den Masern gestorben waren.
Gustav
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