Die Saga vom Eisvolk 09 - Der Einsame
lagen sie in einem Zimmer im ältesten Teil von Lindenallee in ihren kurzen Betten.
Es war ein Zimmer mit einer eigenartigen Atmosphäre, Mikael konnte nicht richtig erkennen, was es war. Er mochte das Zimmer und vergaß vollkommen, die kleinen Fenster zu verhängen.
Draußen war es still. Dominic atmete im Schlaf ruhig und gleichmäßig. Ruhe breitete sich in Mikael aus, sein Körper fühlte sich so schwer an, als könne er jeden Augenblick durch das Bett auf den Boden fallen.
Er war zu Hause. In seinem Herzen fühlte er ein großes Glück darüber, daß alle ihn mit so großer Freude und so natürlich aufgenommen hatten. Er freute sich auf den nächsten Tag.
Plötzlich hörte er Dominic im Schlaf lachen. Er schmunzelte, als unterhalte er sich mit jemandem. Es klang lustig. Eine ganze Weile ging das so, ab und zu murmelte der Junge unverständliche Worte. Dann verstummte er wieder.
Nächtliche Stille verbreitete sich im Zimmer.
Mit Entsetzen merkte Mikael, wie die dröhnende, unendliche Leere sich wieder vor ihm auftat, schwärzer als die Nacht, mit hämmernden Trommelwirbeln, die, wie er wußte, sein eigener Herzschlag waren.
Er schloß die Augen, ohne daß es ihm half- denn alles spielte sich ja in seinem Inneren ab und war pechschwarze Dunkelheit.
Er wußte nur, daß es in der Finsternis war - ganz in seiner Nähe. So nahe, daß er nur die Hand auszustrecken brauchte, um es zu berühren - wenn er es gewagt hätte.
Ach, er wußte genau, was es war. Hatte es schon lange gewußt. Aber noch immer scheute er sich davor, es beim Namen zu nennen. So verlockend, so weich und verführerisch. Friede. Unendlicher Friede… Dominic! Wie ein stechender Schmerz durchzuckte in der Gedanke an den Jungen und holte ihn zurück. Ewige Stille…
Angstschweiß trat ihm auf die Stirn, das Herz hämmerte in wildem Galopp.
Gott, laß mich frei! Ich bin jetzt doch glücklich, bin zu Hause bei den Meinen. Mein Sohn braucht mich. Ich ertrage das nicht mehr, es vernichtet mich, zieht mich hinab in das absolute Nichts.
11. Kapitel
Mikael erwachte entsetzlich spät. Erst begriff er gar nicht wo er war. Niedrige Decke, dicke Balken, Holzwände. Ein sehr altes, aber gemütliches Zimmer…
Dominic war wach und sah ihn abwartend und scheu an. »Guten Morgen«, sagte Mikael unsicher. »Die Sonne steht wohl schon hoch am Himmel.«
Der Junge lächelte ihn strahlend an und setzte sich auf. »Eine Dame will uns treffen, aber die anderen haben gesagt, sie soll uns ausschlafen lassen. Ich glaube, sie ist jetzt bei dem alten Mann drinnen,«
»Der alte Mann ist dein Urgroßvater, Dominic.« »Ja. Ich glaube, er ist sehr nett.«
»Das ist er. Jetzt aber auf die Beine, sonst holt uns die Dame noch aus dem Bett. Sie klang sehr energisch.« Kurz darauf trafen sie im Wohnzimmer Cecilie. Cecilie war überwältigend. Achtundfünfzig Jahre war sie jetzt, aber ihre Lebenskraft war ungebrochen. Dominic fand, er habe nie zuvor eine so schöne alte Dame gesehen. Nein, alt war sie eigentlich doch nicht, dachte er. Sie wirkte… Der Junge fand einfach nicht das richtige Wort. Zeitlos, meinte er wohl.
Mikael dachte ungefähr das gleiche. Es fiel ihm schwer, die Tränen zurückzuhalten, als er sah, daß ihr die Freudentränen hemmungslos übers Gesicht liefen. Sie drückte die beiden, bis ihnen die Luft ausging.
Mikael war entsetzt. »Ihr glaubt doch wohl nicht… daß Dominic… ?
»Nein«, beruhigte ihn Cecilie. »Villemo und Niklas auch nicht. Das ist etwas, was wir nicht verstehen. Aber ich habe so meine Theorie.«
»Die haben wohl viele von uns«, sagte Liv. »Du hast ja gehört, daß in jeder Generation ein Kind mit der Veranlagung zum Bösen geboren wird. Nun, letztes Mal traf es Gabriella und Kaleb. Ihr erstes Kind war eines der Betroffenen. Aber es war eine Totgeburt.«
Sie schwieg. Vom Sofa her hörten sie Ares Stimme: »Damit haben Liv und ich schon seit vielen Jahren leben müssen, Gabriella und Kaleb. Aber jetzt muß die Wahrheit gesagt werden, das ist sehr wichtig.«
»Das glaube ich auch«, warf Liv ein. » Erzähl du es, Are.« »Das Kind war nicht totgeboren, Gabriella. Aber gesund war es auch nicht. Es war ja eine Frühgeburt und atmete nicht. Vielleicht hätten wir es retten können. Aber wir haben es nicht versucht. Getötet haben wir es nicht. Haben aber auch nicht versucht, sein Leben zu retten. Wir haben gar nichts getan! Denn vor uns sahen wir Kolgrim und seine Untaten. Das kleine Mädchen war noch entstellter als
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