Die Saga von Thale 01 - Elfenfeuer
hatte fest damit gerechnet, sich die Finger zu verbrennen. Doch die Kugel war kalt. Nun zögerte sie nicht länger. Mit beiden Händen griff sie nach der seltsamen Waffe.
Die Kugel fest in einer Hand, griff sie mit der anderen nach dem Felsen, um sich umzudrehen, fand jedoch keinen Halt. Aber die Bewegung verlagerte ihr Gewicht unheilvoll zu einer Seite, und obgleich sie den Felsen noch immer mit den Beinen umklammerte, spürte Sunnivah, wie sie langsam und unaufhaltsam immer weiter abrutschte. Ein Sturz war unvermeidlich und ihr gellender Schrei verhallte als vielfaches Echo zwischen den Felswänden, während sie in die Dunkelheit der Schlucht hinabstürzte.
Der Riesenalp hatte den ganzen Tag geschlafen, um Kräfte für die kommende Nacht zu sammeln. Nun fühlte er sich so frisch und voller Tatendrang wie in seinen jungen Jahren. Es war Zeit, aufzubrechen. Sicher hatten die Rebellen, deren Lager er bis zum Morgengrauen beobachtet hatte, schon mit dem Angriff auf Nimrod begonnen. Die endgültige Entscheidung, ob er sie in ihrem aussichtslos erscheinenden Kampf unterstützen sollte, hatte er zögerlich bis zum letzten Moment hinausgeschoben, doch schon als er die Augen öffnete, wusste er, dass er den Rebellen auch diesmal beistehen würde. Entschlossen erhob er sich, schritt zum Höhleneingang und sah zum Himmel hinauf. Wie ein juwelenbesetzter Teppich spannte sich die Nacht über die Gipfel des Ylmazur-Gebirges, geschmückt von Abermillionen funkelnder Sterne.
Die Nacht der Lichter, dachte der Riesenalp. Sie trug ihren Namen zu Recht. In keiner anderen Nacht leuchteten die Sterne so hell und der Himmel schien so nahe.
Es wird Zeit, aufzubrechen, dachte der Riesenalp, breitete die Flügel aus und spannte seine kräftigen Beine, um sich mit einem Satz in die Lüfte zu erheben. Doch gerade als er losfliegen wollte, drangen durch die Stille der kalten Hochgebirgsnacht seltsame Geräusche an sein Ohr und brachten ihn dazu, seine Pläne kurzfristig zu ändern. Irgendwo, nicht weit von ihm entfernt, hörte der Riesenalp ein glockenhelles Klingen, dessen Ursprung er sich nicht erklären konnte. Neugierig geworden stieß sich der große Vogel von dem Felsvorsprung vor seiner Höhle ab, direkt in die warmen Luftströmungen hinein, die hier im Sommer von den Tälern aufstiegen. Kreisend gewann er rasch an Höhe, wobei er die Hänge des Himmelsturms mit seinen scharfen Augen nach dem Grund für die lieblichen Töne absuchte. Eine Zeit lang sah er nichts, aber das Klingen wurde immer lauter, je weiter er den Berg umrundete. Kurz bevor er die Nordseite des Berges erreichte, wurde der große Vogel plötzlich von einem starken Aufwind erfasst, der ihn für einen Moment aus dem Gleichgewicht brachte und weit hinauftrug. Was ging hier vor? Mit kräftigen Flügelschlägen kämpfte der Riesenalp gegen den Aufwind an und suchte sich seinen Weg den Berg hinab.
Plötzlich stockte ihm der Atem. Nur wenige Längen unter sich entdeckte er auf einem langen Felsen, der weit über eine tiefe Schlucht hinausragte, eine junge Kriegerin, die mit einem Arm eine feurige Kugel an sich presste. Verzweifelt klammerte sie sich mit ihren Beinen an den glatten Stein, während sie mit der freien Hand vergeblich nach einem Halt suchte.
Der Riesenalp traute seinen Augen nicht. Die Ähnlichkeit der Kriegerin mit der Frau aus seinen Träumen war einfach unglaublich! Aber wie konnte das sein? Die Frau, die ihn vor mehr als sechzehn Sommern in seinen Träumen um Hilfe angefleht hatte, war doch längst tot. Zum ersten Mal kamen ihm Zweifel. Sollte er sich damals vielleicht geirrt haben? Er musste unbedingt ihr Gesicht sehen. Der Riesenalp legte seine Schwingen an und verlor rasch an Höhe. Noch bevor er die Kriegerin erreicht hatte, kam sie ins Rutschen. Ihr gellender Schrei hallte durch die Nacht, als sie, die Kugel in den Armen, in den bodenlosen Abgrund stürzte.
Nein! Oh nein!
Eisiges Entsetzen durchzuckte den Riesenalp. Instinktiv wusste er, dass er die Kriegerin retten musste. Aber ihm blieb nicht mehr viel Zeit. Bald würde ihr Körper auf den Felsen am Boden der Schlucht aufschlagen und zerschmettern. Todesmutig legte der Riesenalp seine Flügel noch enger an den Körper und setzte zu einem solch steilen Sturzflug an, wie er ihn selbst als Jungvogel nie gewagt hatte.
Sunnivah verlor nicht das Bewusstsein. Die feurige Kugel fest an den Körper gepresst, strebte sie in freiem Fall unausweichlich ihrem Ende entgegen. Es war fast wie
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