Die Saga von Thale 01 - Elfenfeuer
dem kurzen, gebogenen Dolch, der unmittelbar neben dem Lager bereitlag. Mit einer geschmeidigen Bewegung sprang eine hoch gewachsene Nebelelfe unbestimmbaren Alters unter den Decken hervor und landete katzengleich auf dem harten Felsboden. Lange, bläulich schimmernde Haare fielen über ihre Schultern. Sie umrahmten ein blasses, ebenmäßiges Gesicht mit grauen leicht geschlitzten Augen und waren so lang, dass sie den oberen Teil ihres ledernen Harnischs bedeckten.
»Wer bist du?«, fragte sie furchtlos und blickte misstrauisch in eine leuchtend grüne Lichtsäule, die über der erloschenen Feuerstelle zu schweben schien und fast bis zur Höhlendecke emporragte. Ihr sanftes Licht vertrieb die Dunkelheit aus der Höhle und in dem Licht bewegte sich die Gestalt einer wunderschönen Frau. Obwohl sie zweifellos in der Luft schwebte, erweckten ihre schwimmenden Bewegungen den Eindruck, als befinde sie sich im Wasser.
»Ich bin eine Botin, Naemy, und es ist sehr gefährlich für mich, hierher zu kommen«, sagte die Frau mit sanfter Stimme. »Meine Herrin schickt mich, um dir eine wichtige Nachricht zu überbringen. Ich habe nicht sehr viel Zeit, denn An-Rukhbar spürt meine Anwesenheit bereits. Höre nun, was ich dir zu sagen habe…«
»Wer ist deine Herrin?« Naemy hatte viele Feinde. Sie traute der Erscheinung nicht und war deshalb sehr vorsichtig.
»Sie ist die Verbannte, deren Name in deiner Welt nicht mehr ausgesprochen werden darf«, antwortete die Frau eilig und ihre Erscheinung flackerte für einen kurzen Moment. Dann sprach sie rasch weiter und gab Naemy nicht mehr die Gelegenheit, sie zu unterbrechen. »Meine Herrin hat eine wichtige Aufgabe für dich«, begann sie. »Heute Nacht wird Anthorks Prophezeiung sich erfüllen. Und du, Naemy, musst das neugeborene Kind an dich nehmen und es zu den einzigen noch verbliebenen Priesterinnen der Göttin bringen… Ich weiß, du kennst den Weg. Das Kind ist… Ah, sie haben mich gefunden!«
Die Erscheinung blickte sich nervös um und statt einer Erklärung erschien plötzlich das Bild eines dunklen nebelverhangenen Waldes in Naemys Gedanken. Eine Frau lag blutend neben einem kleinen Feuer und eine zweite kniete neben ihr. Ein Pony stand auf dem Weg und sie sah einen braunen Hund regungslos im hohen Gras liegen.
»Geh dorthin, wenn die Monde sich verdunkeln…« Die Stimme der Frau war jetzt sehr leise und ihre Erscheinung schon fast verblasst.
»Warte!«, rief Naemy der Frau hinterher. »Wie kann ich wissen, dass dies keine Falle ist?« Doch sie erhielt keine Antwort, denn das grüne Licht war bereits verschwunden.
Nachdenklich erhob sich die Nebelelfe von ihrem Lager und ging zu der Feuerstelle hinüber. Mit ihren klammen Fingern legte sie trockenes Gras auf die kalte Asche, griff nach den Feuersteinen und versuchte das Feuer neu zu entfachen.
Sie hatte vor den Gefahren der Nacht Zuflucht in dieser Höhle am Fuße des Ylmazur-Gebirgsmassivs gesucht. Doch die Felsen der Höhle trugen noch die Kälte des vergangenen Winters in sich und ohne das Feuer und ihre wärmenden Decken fror die Nebelelfe erbärmlich. Sie wünschte sehnlichst, dass der Sommer endlich Einzug in diese unwirtliche Gegend halten möge.
In ihrer Heimat, den Sümpfen von Numark, sank die Temperatur niemals unter den Gefrierpunkt. Doch der Weg dorthin war ihr verwehrt. An-Rukhbar hatte das Volk der Nebelelfen bereits vor vielen Sommern aus den Sümpfen vertrieben. Die meisten derer, die es geschafft hatten, den Schwertern seiner Krieger zu entkommen, waren schon bald an dem für Nebelelfen tödlichen Klima außerhalb der Sümpfe zugrunde gegangen. Nur wenigen von ihnen war es gelungen, zu überleben, und sie lebten in diesen finsteren Tagen meist völlig auf sich allein gestellt über das ganze Land verstreut.
Dass Naemy außerhalb der Sümpfe überleben konnte, verdankte sie allein der Tatsache, dass ihr Vater nur ein Halbelf gewesen war. Er war das Ergebnis einer leidenschaftlichen Beziehung, die ihre Großmutter vor vielen hundert Jahreszeiten mit einem Menschen hatte, und sein menschliches Erbe lebte in Naemy weiter.
Endlich brachte ein großer Funke das Gras zum Brennen. Nachdenklich beobachtete sie, wie die kleinen züngelnden Flammen das trockene Gras verzehrten, während sie ihre kalten Hände über dem Feuer wärmte. Dann nahm sie eine Hand voll trockener Hölzer, legte sie auf die Feuerstelle und blickte in die rasch größer werdenden Flammen.
War Shari damals auch so allein gewesen?
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