Die Saga von Thale 01 - Elfenfeuer
Rücken des Mädchens gut zu erkennen. Zwei ebenmäßige schwarze Kreise gleicher Größe standen dicht beieinander und wurden durch einen ebenso breiten dunkelbraunen Streifen miteinander verbunden.
Tassea blickte ungläubig auf das Kind. »Sie trägt das Mal!«, sagte sie fassungslos.
Naemy nickte. »Mit ihr wird sich Anthorks Prophezeiung erfüllen«, sagte sie. »Und meine Aufgabe ist es, sie an einen sicheren Ort zu bringen.«
Tassea strich mit einem Finger liebevoll über die faltige Stirn des Mädchens und fragte: »Kennt Ihr einen solchen Ort?«
Naemy nickte erneut, verzichtete jedoch darauf, der Heilerin Genaueres zu erklären.
»Dann solltet Ihr sofort aufbrechen«, erklärte Tassea. »Das Kind wird Hunger haben, wenn es erwacht.«
Naemy wusste, dass die Heilerin Recht hatte. Behutsam reichte sie ihr das Kind und begann einen fünfzackigen Stern auf den Boden des Weges zu zeichnen. Als sie damit fertig war, schulterte sie ihre Sachen und trat schweigend zu Tassea.
Diese reichte ihr das Kind, doch Naemy spürte, dass sie zögerte. »Du kannst mir vertrauen! Wo ich sie hinbringe, wird es ihr an nichts fehlen«, erklärte sie. »Es wird ihr gut gehen. Darauf hast du mein Wort.«
Tassea nickte und gab dem schlafenden Mädchen zum Abschied einen Kuss auf die Stirn. »Ilahja wollte, dass sie den Namen Sunnivah bekommt«, sagte sie tonlos.
Plötzlich fiel ihr noch etwas ein. Hastig griff sie in ihr Gewand, holte Ilahjas Talisman hervor und legte das Amulett neben dem Kopf des Mädchens auf die Decke.
»Dieses Amulett gab mir Ilahja kurz vor ihrem Tod«, sagte sie leise. »Es ist für Sunnivah. Sorgt dafür, dass sie es bekommt, wenn sie alt genug ist.«
Naemy nahm das Amulett in die Hand und betrachtete es eingehend. »Das ist ein sehr kostbares Erbe«, sagte sie ernst. »Sie wird es erhalten. Du kannst dich auf mich verlassen.«
Naemy trat in die Mitte des Pentagramms.
»Vernichte dieses Pentagramm, sobald ich fort bin.«
Tassea trat vor und reichte Naemy zum Abschied die Hand. »Das werde ich. Die Göttin möge Euch beschützen.«
»Und dich, Heilerin«, erwiderte die Nebelelfe. Dann wob sie mit ihrem Finger einige verschlungene Zeichen in die Luft und sprach leise die uralten Worte, die das Tor zur Zwischenwelt öffneten.
Wenig später war das Pentagramm leer und Tassea allein. Sorgfältig verwischte sie die Zeichen auf dem Boden mit einem Ast und löschte das heruntergebrannte Feuer.
Ein leises Bellen von Brox ließ sie aufhorchen und erinnerte sie daran, dass sie nicht ganz allein war. Ihr treuer Hütehund lag noch immer neben dem Baum und hob winselnd den Kopf, als er ihre Schritte hörte.
»Brox, oh Brox«, flüsterte Tassea und kraulte liebevoll sein von Blättern verschmutztes Fell, während sie ihn untersuchte. Brox’ rechter Hinterlauf war gebrochen.
»Wie es aussieht, wirst du nie wieder Ziegen hüten können«, sagte sie leise zu dem Hund und machte sich daran, das Bein zu schienen.
Danach begann die Heilerin aus jungen, weichen Asten eine Bahre für die toten Mädchen zu flechten, die das Pony später ziehen sollte. Die Arbeit gestaltete sich sehr mühsam. Erst als die Monde wieder am Horizont erschienen, machte sich Tassea mit ihrer traurigen Last auf den langen Heimweg.
9
»Wirklich erstaunlich.« In den Augen des Sequestors blitzte es spöttisch, als er von den Pergamenten, die vor ihm auf dem Tisch lagen, aufblickte.
Der engste Vertraute und oberste Richter An-Rukhbars war von kleinwüchsiger und gedrungener Statur, die er an diesem Abend äußerst vorteilhaft in eine elegante Tunika aus weinrotem Stoff gehüllt hatte. Sein Gesicht war ebenso rund wie sein Bauch und zeigte noch keine Falten, obwohl der Sequestor den Zenit des Lebens schon lange überschritten hatte. Als er weitersprach, umspielte ein bösartiges Lächeln seine Mundwinkel, das Tarek schon häufig bei ihm beobachtet hatte. Er und der oberste Richter An-Rukhbars hatten kein besonders gutes Verhältnis zueinander. Es gab zwar keinen offenen Streit zwischen ihnen, aber Tarek wusste, dass der Sequestor gern jemand anderen auf seinem Posten gesehen hätte.
»Trotz der Hilfe eines Traumflüsterers ist es Euch nicht gelungen, mehr als sechs Frauen zu finden, bei denen die Magie des roten Auges versagt hat«, fuhr der Sequestor fort. »Und nicht eines dieser Kinder trägt das Mal der Zwillingsmonde.« Selbstgefällig lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
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