Die Saga von Thale 03 - Die Hüterin des Elfenfeuers
ging auf die breite Steintreppe zu, die zum Portal des Gebäudes hinaufführte, in dem sich der Ratssaal befand. Für den Nachmittag hatte er eine letzte Sitzung des Druidenrates anberaumt, in der die Ergebnisse und Erkenntnisse der vergangenen Sonnenläufe noch einmal besprochen werden sollten. Die Heermeister würden abschließend über die Maßnahmen zur Verteidigung berichten, und man wollte hören, was die Orakel und Visionen den Sehern über die Zukunft offenbart hatten.
Es war die letzte Möglichkeit, Beschlüsse zu fassen und wenn nötig Änderungen an den bestehenden Befehlen vorzunehmen.
»Mutter!« Der Ruf des kleinen Mädchens durchbrach die lastende Stille wie ein Fetzen der Erinnerung daran, dass das Leben in der Festungsstadt noch vor einem Mondlauf sorglos und fröhlich gewesen war. Kinderlachen und Lebensfreude waren der nahenden Bedrohung als Erstes zum Opfer gefallen. Wo einst überschäumende Lebensfreude herrschte, traf man jetzt nur noch auf Angst und lähmende Furcht.
Der oberste Druide hielt inne und beobachtete, wie das Mädchen auf das Gebäude zurannte, in dem sich die Heilerinnen und Priesterinnen der Gütigen Göttin auf die Behandlung der Verwundeten vorbereiteten. Die Kleine trug ein schlichtes grünes Kleid und ein Kopftuch in derselben Farbe, das die langen roten Haare zurückhielt. Sie mochte kaum mehr als vier Sommer gesehen haben, und ihr Anblick versetzte Anthork einen schmerzhaften Stich. Kinder wie sie waren es, die zu den unschuldigen Opfern sinnloser Kriege zählten.
»Ilahja!« Eine schlanke Frau im weißen Gewand der Heilerinnen kam aus dem Haus und streckte dem Kind die Arme entgegen. »Du solltest doch zu Hause bleiben«, schalt sie mehr besorgt als ärgerlich, als die Kleine ihr in die Arme lief und sich an sie presste.
»Mama! Tarek hat gesagt, das wir heute Nacht alle sterben müssen!«, schluchzte das Mädchen. »Er sagt, vor den Toren warten grauenhafte Gestalten, die uns alle auffressen wollen.«
»Oh, Kind!« Die Mutter strich dem Mädchen tröstend über das dichte rote Haar. »Kind, du darfst doch nicht alles glauben, was dieser Junge dir erzählt. Du weißt doch, dass die Elfen und Riesenalpe gekommen sind, um die bösen Krieger gemeinsam mit unseren Männern zu vertreiben. Niemand wird uns auffressen. Wie kann Tarek nur solche Dinge erzählen?«
»Ich will aber, dass du nach Hause kommst, Mama!«, forderte das Mädchen und schlang zitternd die Arme um den Hals seiner Mutter. »Ich habe solche Angst ohne dich.«
»Aber das geht nicht, Kind.« Die Frau schüttelte betrübt den Kopf. »Sieh mal, du weißt doch, dass ich hier helfen muss. Ich bin eine Heilerin. Einige Männer werden sich im Kampf verletzen, und ich muss ihre Wunden versorgen. Tareks Mutter hat versprochen, auf dich und deine Schwester Acht zu geben. Dort seid ihr . . . «
»Aber ich will nicht da bleiben!«, rief das Mädchen trotzig. »Ich will nicht! Ich will heute Nacht bei dir sein.« Die Kleine schluchzte laut und vergrub das Gesicht an der Schulter ihrer Mutter.
Der oberste Druide beobachtete die Szene aus einiger Entfernung. Er wusste, dass sich das Bild des ängstlichen Mädchens heute an anderer Stelle noch Hunderte Male wiederholen würde. Überall klammerten sich die Kinder an ihre Eltern auf der Suche nach einer Sicherheit, die diese ihnen nicht geben konnten, beobachteten die Kriegsvorbereitungen mit großen, ängstlichen Augen und stellten Fragen, die ihnen niemand beantworten konnte. Was sich hier abspielte, war bitter und schmerzlich anzusehen, aber gewiss nicht ungewöhnlich.
Trotzdem gelang es Anthork nicht, den Blick von dem Mädchen abzuwenden. Er konnte es sich nicht erklären, doch tief in sich spürte er, dass dieses Kind etwas Besonderes war. »SIE darf nicht sterben!«, raunte ihm eine leise Stimme zu. »SIE darf nicht sterben!«
Der oberste Druide runzelte verwundert die Stirn. Er kannte dieses Kind nicht und hatte es nie zuvor gesehen. Es war eines von Tausenden, die den Tod alle nicht verdient hatten, und doch . . .
»SIE darf nicht sterben!«, meldete sich die Stimme wieder.
Warum? Anthork starrte das Mädchen an, das sich immer noch ängstlich an die Heilerin klammerte. Warum gerade sie?
»SIE ist die Hoffnung«, wisperte die Stimme. »Die Hoffnung . . . die Hoffnung . . . rette SIE, die Hoffnung ...« Die Stimme wurde immer schwächer und verstummte schließlich.
Die Hoffnung?, dachte Anthork verwundert. Nie zuvor hatte er eine so merkwürdige Vision
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