Die Saga von Thale 03 - Die Hüterin des Elfenfeuers
über das Schicksal jener Nebelelfen wusste, die sich nicht hatten in Sicherheit bringen können, hatte sie erst viele Sommer später von Lya-Numi oder anderen Elfen erfahren, deren Berichte sie mühsam wie ein lückenhaftes Mosaik zu einem Gesamtbild zusammengesetzt hatte.
Die spärlichen Auskünfte hatten ihr ein ungefähres Bild über das Schicksal der Vermissten gegeben, auch wenn vermutlich nur ein Bruchteil der Nachrichten tatsächlich auf wahren Begebenheiten beruhte.
Eines war jedoch klar: Alle Nebelelfen, die damals in Gefangenschaft geraten waren, blieben spurlos verschwunden.
Naemy wandte den Blick zum wolkenlosen Himmel und atmete die würzige Luft des Waldes ein.
Es war so weit!
Bald würde sich entscheiden, ob sie der ungeheuren Aufgabe, für welche die Göttin sie ausgewählt hatte, gewachsen oder aber des in sie gesetzten Vertrauens unwürdig wäre.
»Was nun?« Shari, die neben ihr am Bach kniete, wandte den Kopf und sah ihre Schwester an. Angesichts all dessen, was in der Nacht geschehen war, fühlte sie sich hilflos und unendlich traurig, und die Wut darüber, dass Naemy tatsächlich nichts unternommen hatte, um ihr Volk vor dem schrecklichen Schicksal zu bewahren, hatte eine tiefe Verbitterung in ihr hinterlassen.
Warum beherrsche ich nicht die Gedankensprache? Warum hat mich noch keiner gelehrt, durch die Zwischenwelt zu reisen? Die ganze Nacht hatte sie damit gehadert, zu jung für die besonderen Künste der Nebelelfen zu sein, mit denen sie ihr Volk hätte warnen können. Wenn sie der Gedankensprache mächtig oder zu einer Reise durch die Zwischenwelt fähig gewesen wäre, hätte sie ihrem Volk das grausame Schicksal erspart. Sie hätte den Elfenkönig gewarnt und ihm geraten, nicht in die Schlacht einzugreifen. Sie hätte ihm gesagt, wie die Schlacht ausgehen würde. Sie hätte ... Shari schüttelte traurig den Kopf. Sie hätte so vieles gemacht, das ihre Schwester nicht hatte tun wollen, doch sie war zu jung und zu unerfahren, und die Wut über die eigene Unzulänglichkeit brannte wie ein wütendes Feuer in ihrem Innern. Nur mühsam gelang es ihr, die Fülle von Gefühlen aus der Stimme zu verdrängen, als sie missgelaunt fortfuhr: »Bist du nun zufrieden? Alles ist so gekommen, wie du gesagt hast. Die Krieger unseres Volkes sind vernichtend geschlagen worden. Nimrod liegt in Trümmern, die Riesenalpe gibt es nicht mehr, und über den Zinnen der Festungsstadt weht die schwarze Flagge der Angreifer. Es ist gekommen, wie du es prophezeit hast. Was muss das für eine ungeheure Genugtuung für dich sein! Wie fühlt man sich, wenn man seine Brüder und Schwestern sehenden Auges in den Tod laufen lässt? Wenn man es in der Hand hat, über Leben und Tod zu . . . «
»Hör auf, Shari!« Es war Glamouron, der die junge Nebelelfe unterbrach. Ein Ausdruck tiefer Betroffenheit lag auf seinem Gesicht, als seine durchdringend blauen Augen die ihren suchten.
»Wie kannst du nur so etwas sagen?«, fuhr er sie an. »Siehst du denn nicht, dass auch Naemy leidet? Kannst oder willst du nicht erkennen, wie schwer ihr die Bürde des Wissens auf den Schultern lastet? Dass sie genauso trauert und leidet wie du - wie wir alle? Dass sie . . . «
»Danke, Glamouron!« Naemy hob beschwichtigend die Hand und lächelte flüchtig. »Auch wenn ich ihm nicht nachgeben kann, so schätze ich doch Sharis Wunsch hoch, unserem Volk zu helfen, denn ich weiß, dass es mir an ihrer Stelle nicht anders erginge. Das Grauen der Schlacht mit ansehen zu müssen, ohne helfen zu können, war für keinen von uns leicht. Wir alle haben große Verluste zu beklagen, und jeder von uns hat das Recht, auf seine Weise zu trauern. Doch uns sind die Hände gebunden. Wir sind hier um einer einzigen Aufgabe willen. Und dieser Aufgabe müssen wir uns mit all unserer Kraft widmen.«
»Und wie willst du das machen?«, fragte Shari mürrisch. »Bisher hast du uns noch nicht einmal verraten, wie dein Plan lautet -wenn du überhaupt einen hast. Aber vielleicht brauchst du ja auch keinen Plan, vielleicht willst du einfach in Nimrod einmarschieren und ein paar Nebelelfen befreien.« Sie machte eine Pause und blickte Naemy spöttisch an.
»Genau das habe ich vor.« Naemy hielt den erstaunten Blicken ihrer Gefährten gelassen stand. Keiner sagte ein Wort. Selbst Shari, die ihrem Unmut zuvor so wortreich Luft gemacht hatte, hatte es die Sprache verschlagen.
Schließlich holte Glamouron tief Luft und brach das Schweigen. »Das ist Wahnsinn!«, sagte
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