Die Saga von Thale 03 - Die Hüterin des Elfenfeuers
umfing er sie mit den Armen und hielt sie fest.
»Beruhige dich«, raunte er ihr zu. »Sie ist nicht von dieser Welt.«
»Lass mich!« Naemy wehrte sich energisch, aber auch sie war erschöpft und ihre Kräfte nach der anstrengenden Flucht aus Nimrod fast aufgebraucht. Schließlich gab sie es auf, sich aus Glamourons Griff befreien zu wollen, holte tief Luft, straffte sich und fragte noch einmal mit mühsam erzwungener Ruhe: »Wo ist Shari?«
»Ich führe dich zu ihr«, erklärte die Frau und fügte mit einem kurzen Seitenblick auf Glamouron hinzu: »Dich - und niemanden sonst.« Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich um und schritt in den Wald hinein.
Naemy folgte ihr. Die aufgehende Sonne färbte den Nachthimmel über den gewaltigen Bäumen grau und schuf in der feuchten Luft zwischen den hoch aufragenden Stämmen einen zarten Dunst, der die hohen Farne und Brombeersträucher am Boden wie ein feines Gespinst einhüllte. Ein einsamer Vogel stimmte ein kurzes Lied an, um den nahenden Morgen zu begrüßen, doch als sich die beiden Frauen näherten, verstummte er und flog mit eiligem Flügelschlag davon.
Die geheimnisvolle Frau führte Naemy zu einer kleinen, mit Gräsern und Farnen bewachsenen Lichtung, die ein umgestürzter Baumriese in das Dickicht zwischen den hoch gewachsenen Christalltannen gerissen hatte. Die mächtigen Wurzeln steckten noch in der Erde und erhoben sich wie ein kleiner Berg über dem Waldboden, in dem nun ein tiefes Loch klaffte. Gräser und junge Farne hatten sich auf dem Wurzelballen und rings um den dicken, moosbewachsenen Stamm angesiedelt und wetteiferten mit den Schösslingen und dem jungen Gehölz zu beiden Seiten des Stammes um den besten Platz im Licht.
Mitten auf der von den Farben des nahen Herbstes gezeichneten Lichtung lag Shari. Die junge Nebelelfe hatte die Augen geschlossen und wirkte, als schliefe sie friedlich, doch Naemy wusste, wie trügerisch der Eindruck sein konnte.
»Shari!« Mit wenigen Schritten war sie an der Seite ihrer Schwester und kniete nieder. »Muinthel«, hauchte sie voller Zuneigung, während sie mit einer Mischung aus Hoffen und Bangen auf Sharis bleiches Antlitz starrte. Die Angst, die geliebte Schwester noch einmal verloren zu haben, schnürte ihr die Kehle zu, und ihr war, als legte sich ein eiserner Ring um ihre Brust, der ihr das Atmen fast unmöglich machte. »Lass es nicht wahr sein«, betete sie in stummer Verzweiflung. »Bitte! Lass es nicht wahr sein.« Tränen verschleierten ihr den Blick, als sie mit zwei Fingern sanft den kühlen Hals der jungen Nebelelfe berührte und ihr horchend das Ohr auf die Brust legte - vergeblich. Das ersehnte Lebenszeichen blieb aus.
»Was hast du getan?« Naemy hob den Blick und ballte die Fäuste. Trauer und Schmerz brachen aus ihr hervor und richteten sich in unbändigem Zorn gegen die sphärische Gestalt der Frau.
Doch diese blieb gelassen. »Ich musste sie aufhalten. Sie weigerte sich, vernünftig zu sein«, sagte sie. »Sie wollte ihr Volk retten und hätte damit alles zerstört.«
»Du hast sie getötet!« Naemy lehnte sich mit dem Rücken an einen Baum und vergrub das Gesicht in den Händen. »Warum?«
»Du irrst dich, sie lebt.« Die Frau schwebte heran, gesellte sich zu Naemy und blickte stumm auf die bleiche Gestalt der jungen Elfe hinab. »Sie schläft nur.«
»Sie schläft?« Naemy schaute überrascht auf. Für einen Augenblick glaubte sie, einen Anflug von Mitleid und Bedauern im Gesicht der Frau zu erkennen, doch der Eindruck verschwand so schnell, dass sie meinte, sich getäuscht zu haben. »Heißt das. . . ?«
»Sie zeigte sich uneinsichtig.« Die Stimme der Frau war wieder so unbewegt wie zuvor. »Ich hätte sie töten müssen, doch ich fürchtete, den großen Plan damit zu gefährden. Diese Bürde könnte ich nicht tragen.«
»Was ist mit ihr?«
»Sie schläft den Schlaf des Vergessens.« Die Stimme der Frau schwankte. »Wenn sie erwacht, wird sie keinen Gedanken mehr an das Schicksal der Zurückgebliebenen verschwenden. Der Weg ist das Ziel, und welche Entscheidung du künftig auch fällen wirst, sie wird dir ohne zu zögern folgen.«
»Dann wird sie leben?«
»Ja, sie wird leben.« Die Frau nickte bedächtig, und ein Schatten huschte über ihr edelmütiges Gesicht. »Aber das hat seinen Preis. Du weißt, dass der Geist deines Volkes nicht zu beeinflussen ist. Im Gegensatz zu den Menschen sind die Strukturen in sich gefestigt und unumstößlich. Ein Eingriff ist für Sterbliche
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