Die Saga von Thale 03 - Die Hüterin des Elfenfeuers
waren.
Über die Köpfe der Menschen hinweg, die sich allmählich auf den Heimweg machten, erkannte Paira das windschiefe Schild der Barriere, einer heruntergekommenen Taverne, deren beschädigtes Mauerwerk und blinde Fensterscheiben einen nicht gerade einladenden Eindruck machten. Die Barriere bildete das Tor zum »Sumpf«, wohin sich die ausgestoßenen und geächteten Kreaturen Nimrods flüchteten. Der »Sumpf« bot entflohenen Gefangenen Schutz und gewährte selbst dem größten Abschaum der Stadt Unterschlupf, bis ein heimtückisch geführter Dolchstoß wieder ein Leben dahinraffte. Es war eine Gegend mit eigenen Gesetzen, die selbst die Stadtwache nur selten betrat.
Paira war froh, dass sie nicht allzu weit in den »Sumpf« hineingehen musste. Die Gassen waren mit Unrat verdreckt, stanken erbärmlich, und bei dem schwindenden Licht war kaum zu erkennen, wohin man die Füße setzte. Die meisten Freudenhäuser befanden sich wegen der vorwiegend gutbürgerlichen Kundschaft am äußeren Rand des »Sumpfes«, und das Haus der Sinne, das größte Freudenhaus der Stadt, lag in unmittelbarer Nachbarschaff zur Barriere.
Als Paira die schmale Gasse betrat, bemerkte sie zwei finstere Gestalten, die sich im Schatten der Taverne bewegten und gerade damit beschäftigt waren, zwei Pferde an den rostigen Eisenringen an der Hauswand festzubinden. Dunkle Umhänge, deren Kapuzen tief ins Gesicht gezogen waren, verhüllten die beiden Männer fast vollständig; dennoch sah Paira kurz die blanke Klinge eines langen Schwertes aufblitzen. Sie erschrak und wich vorsichtshalber an die gegenüberliegende Hauswand zurück. Außer der Stadtwache war es in Nimrod jedem streng verboten, Schwerter und andere große Waffen zu tragen. Reisende mussten diese meist schon am Tor in großen Waffenkammern zurücklassen und erhielten sie erst zurück, wenn sie Nimrod wieder verließen. Doch die beiden vermummten Gestalten vor der Barriere hielten scheinbar nichts davon, sich von den Waffen zu trennen. Paira beobachtete, wie sie die Tür zur Schankstube öffneten und, nachdem sie sich prüfend umgesehen hatten, eilig hinein huschten.
Als das knarrende Geräusch der rostigen Türscharniere verklungen war, setzte Paira ihren Weg fort. Bis zum Haus der Sinne waren es nur noch ein paar Längen, doch ihre Beine fühlten sich mit einem Mal an, als wären sie mit Blei beschwert. Sie musste sich zwingen, einen Fuß vor den anderen zu setzen. »Ich bleibe ja nicht lange dort. Ich gebe die Sachen an der Tür ab und verschwinde sofort wieder«, murmelte sie leise vor sich hin, um sich Mut zu machen, doch das half nicht viel. Immer wieder sah sie die Augen des Dicken vor sich, der sie am Morgen so ungeniert gemustert hatte, dass sie am liebsten vor Scham im Boden versunken wäre. Ihm hier und jetzt im Halbdunkel zu begegnen war nicht gerade ein erfreulicher Gedanke, und Paira betete im Stillen darum, dass nicht er es sein würde, der ihr die Tür öffnete.
Zögernd näherte sie sich dem stadtbekannten Freudenhaus, dessen Fenster mit schwerem Samt verhängt waren. Neben der kleinen, niedrigen Eingangstür, die an dem großen Haus fast lächerlich wirkte, brannte bereits das Licht einer Laterne, deren Flamme tanzende Schatten auf die Hauswand warf. Aus einem halb geöffneten Fenster drang gedämpftes Gemurmel auf die Straße. Eine Frau lachte schrill und laut, doch ein Geräusch, als schlüge jemand mit der Faust auf den Tisch, ließ sie jäh verstummen.
Paira hielt inne und lauschte. Geh schon!, spornte sie sich in Gedanken an, aber die Füße wollten nicht gehorchen. Wie angewurzelt stand sie mitten auf dem holprigen Pflaster und starrte auf die Tür. Nicht einmal fünf Längen trennten sie davon, die Schuld vom Vormittag zu begleichen. Sie brauchte nur zur Tür zu gehen, anzuklopfen und demjenigen, der ihr öffnete, den Korb in die Hand zu drücken. Es schien so einfach - aber sie konnte es nicht. Plötzlich ging die Tür auf, und der feiste junge Mann vom Vormittag trat heraus. Obwohl er statt des prächtigen roten Gewandes nur einen einfachen dunkelbraunen Umhang trug, erkannte Paira ihn sofort. Das rundliche, leicht gerötete Gesicht mit den bösartigen Schweinsäuglein hätte sie unter Tausenden wieder erkannt.
»Ah, da kommt sie, um ihre Schulden zu bezahlen«, sagte er anzüglich und näherte sich Paira wiegenden Schrittes. Ein durchdringender Geruch von Steppenbüffelmoschus eilte ihm voraus, und das Mädchen rümpfte missfallend die Nase. »Wie
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