Die Saga von Thale 03 - Die Hüterin des Elfenfeuers
die vielen Sommer der Unterdrückung erspart geblieben? Hätte, wäre, wenn . . . Naemy seufzte. Solche Gedanken führten zu nichts. Was sie dort unten vor sich sah, war längst Vergangenheit, der Beginn des dunkelsten Kapitels in der Geschichte Thaies, eines Kapitels voll Tod und Zerstörung. Und so verlockend der Gedanke auch war, dass sie hier und jetzt die einmalige Gelegenheit hätte, die Geschichte des Landes neu besser zu schreiben, so gefährlich war es auch, in vergangene Ereignisse einzugreifen. Betrübt ließ die Nebelelfe den Blick über die Lagerfeuer schweifen. Sie konnte nichts für die Bewohner Thaies tun. Das Wissen um den tausendfachen Tod, den das gewaltige schwarze Heer ins Land tragen würde, zerriss ihr fast das Herz. Alles in ihr schrie danach, die Ahnungslosen zu warnen, doch die Vernunft sagte ihr, dass sie es nicht durfte.
Die Weisungen, die sie erhalten hatte, waren eindeutig. Niemand - nicht einmal ein Cha-Gurrlin - durfte durch ihre Hand den Tod finden, sofern er nicht ohnehin dem Tod geweiht war. Unterliefe ihr nur ein einziger Fehler, so konnte das für die Zukunft Thaies weit reichende Folgen haben. Menschen, die später einmal eine wichtige Rolle spielen sollten, würden womöglich nie geboren werden, weil einer ihrer Ahnen durch Naemys Hand den Tod gefunden hatte. Oder es würden völlig neue Geschlechter heranwachsen und die künftigen Geschicke des Landes beeinflussen, weil sie einem der Urahnen das Leben rettete. Das durfte auf keinen Fall geschehen. Das Rad des Schicksals musste sich weiterdrehen, als wäre sie niemals zurückgekehrt. Persönliche Gefühle und Wünsche spielten in dem großen Plan keine Rolle.
Naemy seufzte erneut und schob sich rückwärts so weit hinter die Hügelkuppe, dass sie von der Ebene aus nicht entdeckt werden konnte. Sie hatte geahnt, dass es keine leichte Aufgabe für sie werden würde, doch erst jetzt begriff sie das wahre Ausmaß der Prüfung. Den Gefahren, die auf ihrem Weg lauerten, fühlte sie sich gewachsen, aber untätig zusehen zu müssen, wie ihre geliebte Heimat und deren Bewohner - Elfen, Menschen und Riesenalpe - zu Tausenden abgeschlachtet wurden, war mehr, als sie ertragen konnte.
»Barad!« Sie ballte die rechte Hand zur Faust und schlug heftig auf den Boden. Kleine nadelspitze Steine schnitten ihr in die Haut, doch sie spürte den Schmerz kaum. Verzweiflung wütete in ihr wie ein wildes Tier und suchte nach einem Ausweg. Was die Göttin von ihr verlangte, war unmenschlich und grausam. »Heilige Mutter allen Lebens, gib mir die Kraft, es durchzustehen«, flehte Naemy, während sie mit der Faust wieder und wieder auf die harte Erde hieb und den Tränen freien Lauf ließ. »Gib mir die Kraft, der Versuchung zu widerstehen, mein Volk zu warnen. Ich bin nicht...«
Ein roter pulsierender Lichtschein riss Naemy aus ihren Gedanken. Verwundert hielt sie inne und hob, ohne die blutende Hand weiter zu beachten, den Blick zum Himmel. Inmitten der undurchdringlichen Schwärze hatte sich ein schmaler, feuriger Riss über dem Heerlager gebildet, der sich langsam vergrößerte. Dahinter pochte dieses rot glühende Leuchten, das wie flüssiges Magma vom Himmel zu rinnen schien. Schon stimmten die Cha-Gurrlinen-Krieger am Boden in ihrer gutturalen Sprache einen eintönigen, stampfenden Gesang an, der wie eine machtvolle magische Beschwörung von der Finstermark zum Himmel emporstieg.
Hastig wischte Naemy die Tränen fort, huschte auf die Hügelkuppe und wagte einen vorsichtigen Blick auf die Ebene, wo sich die Krieger erhoben hatten. Die massigen Köpfe in den Nacken gelegt, starrten sie wie gebannt auf die feurige Öffnung am Himmel. Ihr Gesang beschleunigte sich und wurde abgehackter und fordernd, gerade so, als warteten sie in freudiger Erregung auf etwas.
Schon zuckten glühende Blitze aus der Öffnung zur Erde hinab, die das Gestein zischend verdampfen ließen, wo immer sie in den Boden einschlugen. Naemy sah, wie ein Cha-Gurrlin vom Blitz getroffen lautlos in sich zusammensackte. Doch die Krieger kümmerten sich nicht um ihn. Das ganze Heerlager schien in eine Art Trance gefallen zu sein, berauscht von dem feurigen Spektakel am Himmel und dem primitiven Rhythmus des Gesangs.
Plötzlich zerriss ein gewaltiger, Funken sprühender Blitz die Luft, dem ein ohrenbetäubender Donnerschlag folgte. Instinktiv schloss Naemy die Augen und hielt sich die Ohren zu. Aber selbst das konnte nicht verhindern, dass ihre empfindlichen Elfensinne mit Schwindel
Weitere Kostenlose Bücher