Die Sakristei Des Todes
etwas, nicht wahr, Pater Prior?« Anselm fuhr
sich mit der Zunge über die schmalen, trockenen Lippen. Hatte er
recht daran getan, diesen jungen Dominikaner zurückzuholen?
Athelstans Verstand war zu schnell, zu scharf. War die Kur, die er
vorgeschlagen hatte, vielleicht schlimmer als die Krankheit? Hatte
William de Conches recht? Wäre es besser, diese Dinge ruhen zu
lassen? Athelstan schaute ihn mit seinen meergrauen Augen fest an.
»Ja, ja, da ist noch etwas«, gestand er. »Alcuin kann nicht aus dem
Kloster geflohen sein. Seine Zelle war so, wie er sie verlassen
hatte; er nahm nichts mit, keine Heilige Schrift, keine Tasche,
keine Speise, kein Geld, keine Stiefel, kein Pferd aus dem Stall.
Und wenn er geflohen wäre, hätte ihn doch sicher jemand gesehen.
Außerdem fühlte er sich aus dem Kapitel ausgeschlossen. Er und sein
enger Freund, Bruder Callixtus« - Anselm lächelte matt -, »hielten
sich immer für Theologen. Die anderen Brüder hörten sie schwatzen;
sie taten das Generalkapitel als Farce ab. Alcuin meinte, sein
Freund Callixtus könne beweisen, daß Ihr, Großinquisitor, Eure Zeit
verschwendet.«
»Was meinte er damit?« bellte
William de Conches.
»Er meinte, Mönch …« Cranston
schmatzte und klappte die Augen
auf.
Die Dominikaner zuckten zusammen,
als der Coroner vollends erwachte, sich reckte und scharf in die
Runde spähte, ob jemand über ihn lachte.
»Er meinte«, wiederholte er dann,
»daß es zwei Mönche gab« - er grinste -, »Verzeihung, zwei
Ordensbrüder, die das Generalkapitel für Zeitverschwendung hielten.
Jetzt ist der eine tot und der andere verschwunden. Habe ich recht,
Pater Prior?«
Anselm nickte rasch. Cranston hielt
einen dicken Finger hoch.
»Ich habe nicht Logik studiert,
erinnere mich aber stets an das alte Sprichwort: ›Wenn ein Hund die
Augen schließt, muß er deshalb noch lange nicht schlafen.‹ Ich bin
Sir John Cranston, Coroner des Königs in dieser Stadt. Auch wenn
ich schlafe, bin ich wach.«
Athelstan stöhnte. Er wünschte,
Cranston würde jetzt nicht sein Possenspiel vom Trunkenbold
veranstalten. »Pater Prior«, sagte er hastig, »was, glaubt Ihr,
haben Alcuin und Callixtus gemeint, als sie sagten, der
Großinquisitor verschwende hier seine Zeit?«
»Das weiß ich nicht. Die beiden
standen ständig tuschelnd in den Ecken; und Callixtus suchte in der
Bibliothek nach irgendeinem Manuskript.«
»Und der andere«, unterbrach
Cranston grob und funkelte Athelstan an. »Ihr wißt schon, der Alte,
der als erster gestorben ist - Bruno. Hatte er etwas mit dem
Generalkapitel zu tun?«
»Nein«, antwortete Eugenius. »Aber
Alcuin behauptete aus irgendeinem merkwürdigen Grund immer, er habe
genau um die Zeit in die Krypta gehen wollen, als Bruno dort
stolperte und fiel.« Eugenius verzog das Gesicht. »Ich überlasse es
Euch, Athelstan, nun Eure Schlüsse zu ziehen, was er damit gemeint
haben könnte.«
Athelstan notierte sich, was bis
dahin berichtet worden war; dann legte er seine Feder hin, stand
auf und blieb vor Bruder Roger stehen, der sich duckte wie ein
verängstigter Hase und den Großinquisitor nicht aus den Augen ließ.
Athelstan ergriff die Hand des Schwachsinnigen. »Bruder Roger«,
sagte er leise, »was möchtest du dem Pater Prior
erzählen?«
Roger klapperte heftig mit den
Lidern und leckte sich die Lippen, so daß seine Zunge zu groß für
seinen Mund zu sein schien. Speichel rann ihm über das Stoppelkinn,
und der Subsakristan rieb sich mit schmutzigen Fingern den Schädel.
»Ich habe in der Kirche etwas gesehen«, sagte er. »Aber ich weiß
nicht mehr, was es war - nur, daß es zwölf hätten sein müssen. Oder
dreizehn?« Er grinste Athelstan ausdruckslos an. »Ich weiß es
nicht. Bruder Roger vergißt so schnell.«
Athelstan richtete sich
kopfschüttelnd auf. »Pater Prior, gibt es noch etwas, das wir
wissen müssen? Weiß sonst jemand noch mehr über diese
geheimnisvollen Ereignisse?«
Eine Mauer des Schweigens
beantwortete diese Frage. »Wenn das so ist, Pater Prior, würden Sir
John und ich uns gern zurückziehen. Wir haben doch ein Zimmer
hier?«
»Ja, der Diener wird euch
hinaufführen. Sir John und du, ihr werdet in unserem Gästehaus
wohnen.« Athelstan biß sich auf die Lippen. Er wußte, daß Sir John
in Blackfriars bleiben wollte, um vor Lady Maudes spitzer Zunge
sicher zu sein, aber der Gedanke, mit ihm eine Kammer zu teilen,
mißfiel ihm. Er war ein paarmal mit Cranston auf Reisen gewesen,
und er wußte, daß der Coroner
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