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Die Sakristei Des Todes

Die Sakristei Des Todes

Titel: Die Sakristei Des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Harding
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Erfrischungen zu besorgen.
    Die Abhandlung war auf sauber
zusammengenähten Pergamentbögen geschrieben. Angesichts der
akkuraten Handschrift, der frischen Tinte und der klaren
Argumentation schüttelte Athelstan staunend den Kopf. Bruder Henrys
Abhandlung war ein Juwel theologischer Analyse; mit großer Sorgfalt
widerlegte er das akzeptierte Dogma der Kirche. Er vertrat die
Überzeugung, die Fleischwerdung Christi rühre aus dem Verlangen
Gottes, die göttliche Schönheit mit dem Menschen zu teilen, und
folgte nicht der üblichen, ermüdenden Argumentation, derzufolge es
um »Erlösung von der Erbsünde« oder »Buße für die Sünden des
Menschen« gehe. In Bruder Henrys Abhandlung wurde Gott als
liebevoller Vater dargestellt und Christus als körperlicher
Ausdruck dieser Liebe; hier war Gott kein zorniger Richter, der
Christi Tod murrend als Sühne für die Sünden des Menschen
ansah.
    Cranston kam zurück, brummelte etwas
und tappte die Treppe zur Schlafkammer hinauf. Athelstan las weiter
und freute sich an der präzisen Terminologie und der Klarheit des
Gedankens. Als er fertig war, klopfte er mit dem Finger auf das
Pergament. »Brillant!« sagte er leise. »Die Inquisitoren
verschwenden ihre Zeit. Bruder Henry ist ein origineller Denker,
aber ein Ketzer ist er nicht.«
    Er legte die Schrift aus der Hand
und reckte sich; dann folgte er Sir John hinauf ins Schlafgemach.
Der Coroner schlief bereits tief. Athelstan kniete vor seinem Bett
nieder und versuchte, seine Gedanken von den verschiedenen Szenen,
Botschaften, Fragmenten und Ereignissen des Tages zu befreien. Er
wollte beten, wußte aber auch, daß dies ein wichtiger Tag gewesen
war. Er hatte bedeutsame Dinge gesehen und gehört, aber noch konnte
er sie nicht deuten. Er schloß die Augen und merkte, wie er
davontrieb. Eine Stunde später wachte er auf und fand sich
zusammengesunken vor dem Bett. Müde kletterte er hinein und versank
wieder in traumlosem Schlaf.

 
    NEUN
    Athelstan erwachte früh am nächsten
Morgen. Cranston schnarchte noch im Tiefschlaf. Athelstan lag eine
Weile ruhig da; er fühlte sich warm und ausgeruht. Als er das erste
Läuten hörte, stand er auf, nahm ein Handtuch vom hölzernen
Lavarium und ging hinaus, durch den Nebel hinüber zum Badehaus des
Klosters. Dort wusch und schrubbte er sich ab; dann warf er seine
Kutte über und ging in die Küche des Gästehauses, wo er das Feuer
anzündete und ein wenig Wasser zum Rasieren heiß machte. Auf
Zehenspitzen kehrte er nach oben zurück, holte frische Wäsche und
eine saubere Kutte aus seiner Satteltasche und frühstückte dann die
Reste des Abendessens.
    Eine Zeitlang kniete er, sprach
seine Gebete, und seine Gedanken waren klar und diszipliniert; dann
ging er hinüber in die Klosterkirche, um in einer der
Seitenkapellen die Messe zu lesen. Als er die Gewänder abgelegt und
Norbert gedankt hatte, der als sein Sakristan gedient hatte, ging
Athelstan in den Chor hinter dem Hochaltar, wo es immer noch süß
nach Kerzenwachs und Weihrauch duftete. Wie erwartet, fand er einen
Sarg, der auf den dicken Holzpfeilern auf dem roten Teppich ruhte;
in den Deckel waren die Worte Bruder Roger
obiit 1379 geschnitzt. Athelstan strich
über das glatte Kiefernholz. Später würde eine feierliche
Requiemmesse gesungen werden, und Bruder Rogers Leichnam würde
neben den anderen Toten der Klostergemeinschaft im großen Gewölbe
unter dem Chor zur letzten Ruhe gebettet werden.
    Athelstan stand noch da, als andere
Mönche hereinkamen, auf dem Betstuhl niederknieten und still ihres
Ordensbruders gedachten. Athelstan wartete, bis sie alle dem Ruf
zum Stundengebet gefolgt und gegangen waren, ehe er selbst
niederkniete, weniger um zu beten, als vielmehr um sich vor der
Ordensgemeinschaft zu verbergen, die sich auf ihren Bänken im Chor
versammelte und die Psalmen sang. Athelstan schaute sich in der
Apsis um, deren hohe Wand die Rückseite des Altars kreisförmig
umgab, und betrachtete die Statuen der Apostel in ihren Nischen.
Seltsam, überlegte er; Alcuin hatte in diesem Chor gebetet, bevor
er verschwunden war, und auch sein eigener Chor in St. Erconwald
barg ein Geheimnis. Wieder schaute er die Apostelfiguren an.
Konzentriere dich, ermahnte er sich, und vergiß jetzt einmal St.
Erconwald! Alcuin hatte hier gebetet, und dann war er verschwunden.
Bruder Roger hatte gesagt: »Es hätten zwölf sein müssen.« Was hatte
er damit gemeint? Der Ordensbruder betrachtete den großen Holzsarg
und schaute dann wieder zur

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