Die Samenhändlerin (German Edition)
ihrem ersten Reisetag. Etwas, womit niemand gerechnet hatte.
Sternenfee, hast du deine Finger im Spiel?
Eine Fuchsfalle. Bestialisch, widerlich. Etwas, wofür man niemanden zur Verantwortung ziehen konnte.
Ausgerechnet hier, in dieser Wildnis, abseits der Stadt.
Wenn man wenigstens noch etwas sehen würde! Aber längst war die Nacht über sie hereingebrochen. Ob es sieben Uhr war? Oder schon acht? Seraphine hatte jegliches Zeitgefühl verloren.
Im Dunkeln konnte man sich verlaufen, vor allem in fremder Umgebung. Noch ein Gedanke.
Was, wenn ich weder den Hof noch Hannah wiederfinde?
Würde Hannah die Nacht allein überstehen?
Abrupt hielt Seraphine an, runzelte die Stirn. Ihre Finger brannten dort, wo die Haut abgeschabt war. Sie benetzte den Zeigefinger und tupfte die Spucke auf ihren ramponierten Daumen. Was, wenn Hannah verblutete? Oder erfror? Sie war schon erschöpft, der Marsch durch den Wald hatte sie angestrengt. Eine lange Nacht ohne jeden Schutz vor der Kälte und mit dieser Verletzung würde sie bestimmt nicht überstehen.
Was sollte sie dann zu Hause sagen? »Hannah ist in eine Falle geraten.« Das würde sie sagen, aber nicht in dem merkwürdig heiteren Ton, den sie gerade im Ohr hatte.
Hannah ist in eine Falle geraten – war das nicht komisch? Ausgerechnet Hannah, die Zielstrebige.
Unter den entsetzten und fassungslosen Augen der anderen Familienmitglieder würde sie laut heulen und erzählen, wie es gewesen war: dass sie verzweifelt versucht habe, Hilfe zu holen. Dass sie hilflos durch die Nacht geirrt sei, und als sie Hannah am nächsten Morgen wiedergefunden habe, sei diese …
Seraphine blinzelte und bemühte sich um klare Gedanken. War sie nicht tatsächlich gerade dabei, sich zu verlaufen? Wenn sie die Augen schloss, wo war dann vorn, wo hinten? Aus welcher Richtung waren sie gekommen, wo vermuteten sie Herrenberg? Es war ganz leicht, die Orientierung zu verlieren. Man musste nur ein paar Hundert Fuß in die falsche Richtung laufen …
Seraphine kniff die Augen zusammen, streckte ihreschmerzenden Arme weit von sich und drehte sich wie ein Kreisel um die eigene Achse.
Die falsche Richtung …
Hannah für immer aus meinem Leben verschwunden …
Schnell, schneller …
Wo war vorn, wo hinten, wenn einen die Beine kaum mehr trugen?
Ihr Tanz wurde vom schrillen Kläffen eines Kettenhundes begleitet, der offenbar gegen die Anwesenheit von Fremden in seinem Territorium protestierte. Seraphine lachte.
Ein aufdringliches Summen erfüllte ihren Kopf, Gedanken lösten sich auf, sie fühlte sich seltsam schwerelos.
Die falsche Richtung … ein Unfall … schrecklich … alle Sorgen los … Helmut frei … für sie … endlich …
»Was machst du hier?« Jedes Wort ein Peitschenschlag.
Zu Tode erschrocken riss Seraphine die Augen wieder auf und taumelte fast in die ausgestreckten Arme einer Frau.
»Ich …« Mit Entsetzen registrierte sie das Messer, das in der rechten Hand der Frau aufblitzte. Instinktiv riss sie die Arme in die Höhe. Ich bin harmlos!, wollte sie schreien, doch kein Ton kam über ihre Lippen.
Sternenfee, wo bist du?
Zitternd stellte sie ihre Beine weiter auseinander, um festeren Boden unter den Füßen zu gewinnen.
»Du sagst mir augenblicklich, was du auf meinem Grund willst!« Das Messer schimmerte silbrig im matten Mondlicht. »Wenn du glaubst, bei mir gäbe es was zu holen, hast du dich getäuscht!« Die Frau lachte roh. »Das haben andere auch schon geglaubt und wurden eines Besseren belehrt …«
Seraphine starrte ihr Gegenüber an. Die Frau sah aus, als würde sie nicht zögern, ihre Waffe zu benutzen. Ihr Gesicht war mit Muttermalen und Leberflecken übersät, ihre Haare soraspelkurz geschnitten, dass ihr Schädel wie ein Totenkopf wirkte.
»Ich …« Lahm wies Seraphine mit ihrem rechten Arm hinter sich. »Ich wollte Hilfe holen. Meine … Schwägerin ist in eine Falle geraten.« Krampfhaft versuchte sie, dem abschätzigen Blick der anderen standzuhalten.
»Hilfe holen – und dafür führst du so einen Veitstanz auf? Diesen Bären kannst du jemand anderem aufbinden.« Die Frau schnaubte verächtlich. Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und ging auf das heruntergekommene Haus zu.
Fassungslos schaute Seraphine ihr nach.
»Halt! So warten Sie doch! Sie können doch nicht einfach – «
Wie ein Derwisch fuhr die Kahlgeschorene herum. »Was kann ich nicht?« Plötzlich war sie wieder ganz nah, ihr Atem traf Seraphines Gesicht.
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