Die Samenhändlerin (German Edition)
schwermütig.«
Valentin nickte. Jeder andere hätte sich über Helmuts Wortwahl gewundert, er jedoch wusste, worauf sein Bruder anspielte. Andererseits hätte er Helmuts zukünftige Braut nicht so bezeichnet: schwermütig. Seraphine war vielleicht anders als die übrigen Mädchen in ihrem Alter. Ernster und irgendwie auch verträumter. Rätselhaft hätte Valentin es genannt. Ja, rätselhaft und geheimnisvoll. Helmut dagegen hatte sich schon des Öfteren über ihre Ernsthaftigkeit beschwert. Darüber, dass sie so wenig lachte. Oft verloren vor sich hin starrte, ohne ein Wort zu sagen. Sie träumte sich häufig weit weg, na und? War das denn ein Wunder? Ständig gab es Streit zwischen Friedhelm und Else Schwarz, dazu die Geldsorgen, die düstere Hütte mit den feuchten Mauern – wem wäre da noch zum Lachen zumute? Wäre Helmut nicht solch ein grober Klotz gewesen, hätte er dies längst selbst erkannt, statt immer wieder über Seraphines »Schwermut« zu klagen.
»Hannah hat so ein Lachen, das mag ich gern … Sie ist einfach geradeheraus, und wenn’s was zu tun gibt, packt sie eben an. Du hättest mal sehen sollen, in welcher Windeseile sie ihren Mantel geschnappt und sich auf die Suche nach deinem Arzt gemacht hat! Der muss man nichts zwei Mal sagen, nein, sie –« Als hätte er sich selbst beim Schwadronieren ertappt, änderte sich Helmuts Ton schlagartig. »Ach verdammt, was solldenn das? Ich habe gedacht, du hilfst mir! Stattdessen stellst du mir eine dumme Frage nach der anderen.«
»Nun, es ist unbestritten, dass du dich in einer ziemlich üblen Lage befindest.« Stille Schadenfreude machte sich in Valentin breit, für die er sich im selben Moment schämte. »Weiß Fräulein Hannah denn, dass du eigentlich « – so, wie er das Wort betonte, bekam es einen rein rhetorischen Charakter – »in drei Wochen eine andere heiraten willst?«
Helmut schüttelte trübselig den Kopf. »Ich habe ihr gesagt, dass ich über alles nachdenken muss. Dass sich sicherlich eine Lösung finden lässt. Dass ich dazu aber Zeit brauche«, erwiderte er tonlos. Er trat gegen einen verharschten Haufen Schnee. »Das Ganze trifft mich wie ein Schlag aus dem Hinterhalt! Ich meine, wer hat denn mit so etwas gerechnet? Am liebsten würde ich mein Bündel packen und auf und davon gehen!« Er blieb stehen und packte Valentin an den Schultern. »Eigentlich will ich gar nicht heiraten, verstehst du? Nicht die eine und nicht die andere! Wenn Mutter mir wegen Seraphine nicht ständig in den Ohren gelegen hätte … Das musst du doch verstehen, oder? Ich meine, wir haben doch beide schon genug gesehen …«
Valentin wusste sehr wohl, was sein Bruder damit meinte, doch er tat ihm nicht den Gefallen, dies zuzugeben. Sollte er ruhig ein wenig im eigenen Saft schmoren!
Ja, auf ihren Fahrten bekamen sie zu viel zu sehen. Vor allem auf den Reisen in abgelegene Gegenden war ihnen das Elend immer wieder in all seiner Brutalität begegnet. In den einsamen Bergdörfern oder den engen Tälern, in denen der einzige Broterwerb der Menschen im Ackerbau bestand. Der harte Alltag, der ewige Hunger, die ständige Übermüdung der Frauen – da war es kein Wunder, dass in den Familien Streit und Hader herrschten. Die verhärmten Gesichter der Weiber, ihr ewiges Gekeife, der säuerliche Gestank nach Unrat und schmutzigenLeibern – Valentin und Helmut waren stets froh, wenn sie solch ein Haus wieder verlassen konnten. Die Ehemänner aber, die mussten bleiben. Häufig genug vertranken sie das wenige Geld, das hereinkam. Und dann war nichts mehr da, um Samen fürs nächste Frühjahr zu kaufen. Oft war die Not so groß, dass die Brüder versucht waren, das nötigste Saatgut auf Pump dazulassen. Und manchmal taten sie dies auch – wohl wissend, dass es mit dem Zurückzahlen wahrscheinlich nichts werden würde.
Valentin seufzte. Ja, da konnte einem die Lust aufs Heiraten wirklich vergehen! Von wegen »in guten wie in schlechten Zeiten« …
Und man musste gar nicht so weit schauen: Auch in Gönningen war das Elend in manchen Häusern ein ständiger Gast. Auch hier gab es Menschen, die Samen auf Pump bekamen und bei denen es mehr als zweifelhaft war, ob sie ihre Schulden würden zurückzahlen können.
Dabei hatten ihre Urgroßväter und Großväter alle dieselben Voraussetzungen gehabt: ein paar Samen zum Weiterverkauf. Große Unterschiede hatte es in früheren Zeiten zwischen den Familien im Dorf kaum gegeben, so berichteten zumindest die
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