Die Samenhändlerin (German Edition)
übertrieben. Von den ungefähr 2500 Einwohnern gingen 1200 dem Handel mit Samen nach, das hatte die letzte Zählung ergeben. Der Schuhmacher, der Kaufmann, Emma und Käthe, ja sogar der Metzger mischten zeitweise kräftig in diesem Geschäft mit.
»Frauen auch?«, hatte Hannah ungläubig nachgefragt.
»Frauen auch!«, bestätigte Käthe lächelnd und erzählte, es gäbe Familien, in denen sowohl der Mann als auch die Frau »auf die Reise« gingen – getrennter Wege, versteht sich! Nicht nur mit Blumen- und Gemüsesamen wurde gehandelt, sondern auch mit Honig, Käse, Dörrobst – manche Händler seien die reinsten wandelnden Gemischtwarenläden.
»Wenn eine Frau was vom Geschäft versteht, kann sie ebenso gut verkaufen wie ein Mann!«, fügte sie nicht ohne Stolz hinzu.
Der Handel war streng an die Jahreszeiten gebunden, erfuhr Hannah. Es gab Zeiten, in denen das Dorf wie ausgestorben dalag, weil die Hälfte aller Bewohner unterwegs war. Vor allem im Herbst, wenn die Arbeiten auf den umliegenden Feldern erledigt waren, machten sich die Samenhändler auf den Weg.
»Aber dann ist doch der Winter nicht mehr fern«, lautete Hannahs Einwand, die an ihre eigene anstrengende Reise dachte.
»Sicher, das Reisen ist beschwerlich, aber was will man machen?« Käthe zuckte mit den Schultern. »In der Winterzeit istes viel einfacher, die Leute zu Hause anzutreffen. Im Sommer sind die meisten auf dem Acker, auf dem Markt oder sonst wo – da muss man ein Haus mehrere Male besuchen, um die Bewohner zu sprechen, das kostet viel Zeit. Und Zeit ist nun einmal Geld.« Deshalb seien sie und ihre Mutter nur im Winter und nicht wie viele andere Gönninger auch im Sommer zum Jakobihandel unterwegs, fügte Käthe hinzu.
Jakobihandel? Hannah hätte gern nachgefragt, doch da hatte Käthe ihren Faden schon wieder aufgenommen.
Diejenigen, die weite Reisen in fremde Länder unternahmen, blieben bis Ostern weg. Andere, deren Samenstrich nicht ganz so weit entfernt lag, unterbrachen ihre Reise, um Weihnachten zu Hause zu feiern.
Der Samenstrich – was für ein seltsames Wort! Vor Hannahs innerem Auge tauchten Kinder auf, die aus Kreide einen Strich aufs Kopfsteinpflaster malten. Auf diesem Strich balancierten nun die Gönninger Samenhändler, ihren Zwerchsack, gefüllt mit Sämereien aller Art, auf dem Rücken. Bei dieser Vorstellung musste sie lachen. Käthe hatte sie sogleich mit tadelndem Blick belehrt. Der Samenstrich war das Gebiet, in dem ein Händler seine Kundschaft hatte. Die meisten kannten ihre Kunden seit vielen Jahren, seit Jahrzehnten sogar! Für die Leute war es selbstverständlich, jedes Jahr aufs Neue bei »ihrem« Samenhändler einzukaufen. Die Händler respektierten in der Regel den Samenstrich eines anderen, auch wenn es in dieser Hinsicht manchmal zu unschönen Ausnahmen kam.
Mancher Samenstrich läge in so fernen Ländern wie Russland oder sogar Amerika, hatte Käthe erzählt, und in ihrer Stimme klang Bewunderung für diese Fernhändler mit.
Auch Helmut und sein Bruder Valentin gehörten zu diesen Fernhändlern – sie bereisten Böhmen –, während der alte Herr Kerner im Elsass auf die Reise ging und die Mutter gar nicht mehr.
Hannah hatte alle Informationen wie ein Schwamm aufgesogen. Was für ein aufregendes Leben! Aber was war mit den Kindern, wenn deren Mütter wochenlang von zu Hause wegblieben? Wer führte den Haushalt? Und wie kam es, dass alle so viel vom Gemüse- und Blumenanbau verstanden? Sie hätte noch so viele Fragen gehabt, doch dann war Helmut erschienen, und alle Samenhändler dieser Welt – bis auf den einen – waren unwichtig geworden.
Hannah seufzte laut und tief. Ihr Seufzer war das einzige Geräusch weit und breit. Kein Türenschlagen, kein Töpfeklappern war von unten zu hören – wahrscheinlich richteten sich Emma und Käthe für den Kirchgang her. Sie hatten sie eingeladen mitzukommen, doch Hannah hatte abgelehnt. Die neugierigen Blicke bei ihren wenigen Spaziergängen durch Gönningen hatten ihr gereicht! Mehr als einmal hatte Emma sie ermutigt, sich das Dorf anzuschauen. Es gäbe viel zu sehen in Gönningen. Die stattlichen Häuser aus Tuffstein – so hieß der seltsam gelbliche Stein, der Hannah schon bei ihrer Ankunft aufgefallen war –, das hübsche Bächlein, und dann die Geschäfte! Doch wenn Hannah an ihren mageren Geldbeutel dachte, waren Einkäufe das Letzte, was sie sich leisten konnte. Nach Besichtigungen war ihr auch nicht zumute, einzig um Helmuts
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