Die Samenhändlerin (German Edition)
anderswo.
Gleich in der ersten Woche nach Helmuts Abreise nahm sie sich auch die Packstube vor: Sie kochte Seifenwasser und begann, alles von oben bis unten zu schrubben. Wilhelmine, der der Arbeitseifer ihrer Schwiegertochter ein wenig unheimlich war, gab ein paar lobende Worte von sich, bot aber nicht ihreMithilfe an. Was Hausarbeit anging, wurde bei den Kerners zwar das Nötigste erledigt, aber keiner schien besonderen Wert auf blank gewienerte Böden und staubfreie Oberflächen zu legen. Viel wichtiger war doch, dass stets genügend Sämereien auf Lager waren und dass in der Packstube allgemein Ordnung herrschte. Ob man dort gleichzeitig vom Fußboden essen konnte – danach fragte niemand. Ganz im Gegensatz zu Hannahs Mutter, die jeden Morgen die Wirtsstube von vorn bis hinten geschrubbt hatte. Also machte sich Hannah allein ans Werk.
Zuerst nahm sie sich den riesigen Schrank vor, der die ganze Längsseite des Raumes einnahm. Sein unterer Teil bestand aus unzähligen Schubladen, von denen jede einzelne mit einem Griff aus Messing zu öffnen war. Hier lagerten die verschiedenen Samensorten und in einem besonders großen Fach auch die kleinen Papiertüten, in die das Saatgut für die Kunden abgefüllt wurde. Der Vorrat war nach der letzten Packerei ziemlich zusammengeschmolzen, stellte Hannah fest. Wenn sie es vor Langeweile gar nicht mehr aushielt, würde sie sich daran machen können, Papiertüten zu falten …
Der obere Teil des Schrankes bestand aus offenen Regalen, in denen Karteikästen standen – Namen und Adressen von Kunden, Bestellungen und Rechnungen der Samenlieferanten. Fein säuberlich auf einer hölzernen Leiste aufgereiht, hingen hier auch die unterschiedlich großen Löffel, mit denen die einzelnen Samensorten abgefüllt wurden. Auch zwei seltsam anmutende Waagen gab es – deren Benutzung war Hannah immer noch schleierhaft. An der Wand war eine zweite Leiste angebracht, in der verschiedene Stempel hingen. Damit wurden Bezeichnungen wie »Frühlingszwiebeln, Aussaat Juli-August«, oder »Kohlrabi« auf die einzelnen Papiertüten gedruckt, eine Arbeit, die Hannah besonders viel Spaß machte.
In einer speziellen Schublade, die verschlossen war, lagerte laut Helmut das »Heiligtum« des Betriebs: ein kleinesBüchlein mit Namen und Adressen von geschätzten, zuverlässigen Samenlieferanten. Es sei von größter Wichtigkeit, gute Samenzüchter als Partner zu haben, hatte er ihr erklärt. »Wir sind zwar nicht gerade arm, aber wir sind nicht reich genug, um billig einkaufen zu können«, fügte er noch hinzu und erklärte einer verwunderten Hannah, dass sie es sich nicht leisten konnten, ihre Kunden mit minderem Samen zu verärgern. So würde man Kundschaft schnell verlieren! Eine Hausfrau, die hinter dem Haus einen Acker zu bestellen hatte, vermochte die Qualität des ihr angebotenen Samens nicht zu überprüfen. Sie konnte nur entscheiden, ob der Samenhändler ihr vertrauenswürdig vorkam oder nicht. Die Kerners waren vertrauenswürdig, ihre Samen besonders keimfähig. Allerdings wurden auch fast alle Sorten vor dem Verkauf auf ihre Keimfähigkeit geprüft, erfuhr Hannah. Dazu wurde eine bestimmte Anzahl Samen in feuchte Glasschalen gesetzt, und nach einer gewissen Zeit konnte man dann erkennen, wie viele der Samen tatsächlich zu keimen begonnen hatten. Dank dieser Kontrollen käme es nur sehr selten einmal zu einer Beschwerde, hatte Helmut mit stolzgeschwellter Brust berichtet. Außer den Ulmer Gärtnern waren in dem Büchlein auch Samenlieferanten aus Frankreich, Mitteldeutschland, Dänemark und Italien verzeichnet. Manche Namen wie »Sementi Sgaravatti« oder »Carmine Faraone Menella« waren so abenteuerlich, dass Hannah Mühe hatte, sie zu lesen. Auch holländische Adressen hatte Hannah gefunden, als sie in Helmuts Anwesenheit einen Blick ins »Heiligtum« hatte werfen dürfen. Von den Holländern bezogen sie die Blumenzwiebeln, hatte Helmut ihr erklärt.
Holland, Blumenzwiebeln … wie fremd, wie aufregend! Hannah atmete so tief ein, dass sie niesen musste. Der Geruch der Gemüsesamen – erdig, ein wenig bitter, wie nach wilden Kräutern – kitzelte in ihrer Nase.
Nachdem Schrank und Boden vor Sauberkeit strotzten,gönnte sie sich eine Pause. Wenn doch Wilhelmine mit einer Tasse Tee kommen würde, dachte sie und warf einen ärgerlichen Blick in Richtung Tür. Dann ergriff sie den Samenkatalog, der neben den Stempeln lag, und machte es sich am langen Packtisch bequem.
Eine Zeit
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