Die Samuraiprinzessin - Der Spiegel der Göttin: Band 1 (German Edition)
jetzt war die Genugtuung aus seiner Stimme verschwunden. »Die Geisterwelt hat viele Gesichter. Geister können sich in alles Mögliche verwandeln, können den Menschen Trugbilder vorgaukeln. Genauso verhält es sich mit Dämonen. Glaubst du wirklich, dass jeder Mensch, der dir auf dem Weg begegnet, ein Mensch ist? Dass jedes Tier ein Tier ist? Hinter allem kann sich etwas anderes verbergen. Du musst lernen, es zu erkennen.«
»Ich soll also niemandem mehr helfen, nur weil sich hinter jedem Lebewesen ein Dämon verstecken könnte?«, fragte ich, verärgert über mich selbst und meine Gutmütigkeit.
»Natürlich darfst du den Menschen helfen, denen du begegnest. Doch sei immer wachsam. Der alte Mann schien tatsächlich harmlos gewesen zu sein. Du hast ihm geholfen, er hat dir nichts angetan. Gut. Manchmal nutzen Dämonen die Gutmütigkeit der Menschen jedoch aus und zeigen ihr wahres Gesicht, nachdem sie ihr Opfer irgendwohin gelockt haben. Deshalb musst du immer eine Hand an deiner Waffe haben und bereit sein, dich sogleich zur Wehr zu setzen, sonst findest du dich schneller, als du denkst, vor König Enma wieder.«
Ich nickte beklommen. Er hatte recht. Wieder einmal. Und ich fand es furchtbar, dass ich niemandem mehr trauen sollte. Nicht einmal alten Leuten. Dabei hatte meine Mutter mich stets dazu angehalten, ihnen zu helfen, wenn ich sah, dass sie Hilfe benötigten.
Nachdem wir noch eine Weile vergeblich nach der Hütte gesucht hatten, setzten wir nun gemeinsam die Umrundung des Sees fort.
»Woran soll man den Zugang zum Palast erkennen können?«, fragte ich, denn alles, was ich sah, waren Schilf und umgestürzte Trauerweiden.
»Ich fürchte, ein Mensch kann ihn gar nicht erkennen.«
»Und ein Diener Enmas?« Hiroshi wirkte genauso ratlos wie ich.
»Ich würde ihn erkennen, wenn ich die Macht des Drachenkönigs spüren würde.«
Stattdessen kroch der dichte Nebel unter unsere Kleider, und obwohl es nicht kalt war, begann ich zu frösteln. Vielleicht war das ja ein Zeichen der göttlichen Macht …
»Die alte Frau hat gesagt, dass wir uns zur Zeit des Vollmondes hierherbegeben sollen«, sagte Hiroshi nach einer Weile. »Heute ist Vollmond.«
»Bist du dir sicher? Mein Vater meinte manchmal, dass der Mond, obwohl er voll erschien, noch gar nicht wirklich voll sei. Oder dass er bereits wieder abnehmen würde, wenn die Menschen noch glaubten, dass er voll sei.«
»Für einen Bauern hat sich dein Vater viele Gedanken gemacht.«
»Vergiss nicht, dass er nicht immer ein Bauer war.«
»Auch für einen Mönch sind solche Gedanken nicht gerade üblich. Natürlich befassen sie sich mit den Sternen, aber keiner von ihnen schaut so genau hin.« Er überlegte kurz, dann setzte er hinzu: »Dann wollen wir hoffen, dass diese Gabe auf dich übergegangen ist und du vielleicht doch etwas siehst.«
»Warum weißt du es eigentlich nicht?«, fragte ich. »Du hast behauptet, die Götter hätten dich geschickt.«
»Das haben sie, aber ebenso wenig wie den Fundort der Gegenstände haben sie mir verraten, wie ich in das Reich des Drachenkönigs eindringen kann. Ich bin nur ein kleiner Diener Emnas, und das Reich des Todes ist sogar Göttern unangenehm, selbst wenn sie dort niemals erscheinen müssten.«
»Und warum haben sie nicht jemand anderen auf die Suche geschickt?«
»Weil sie euch nicht kennen.«
»Was sagst du da?« Ich zog erstaunt die Augenbrauen hoch.
Hiroshi nickte. »Genauso ist es. Die Götter lenken eure Geschicke und hören euren Bitten und Klagen zu. Vieles entscheiden sie willkürlich oder nach dem, wie viele Opfer ihr bringt. Wirklich kennen lernt man die menschlichen Seelen nur im Tod. König Enma errät den Charakter eines Menschen bereits, wenn er das Abbild seiner Seele sieht. Von ihm erfahren wir alles über jeden von euch. Und da Enma nicht abkömmlich ist, fiel die Wahl auf mich.«
Diese Worte beschäftigten mich so sehr, dass ich nichts zu erwidern wusste. Wenn die Götter uns nicht kannten, warum setzten wir dann unsere Hoffnungen auf sie? Und warum setzten sie ihre Hoffnungen auf mich?
»Träum nicht und halte lieber Ausschau nach dem Eingang«, unterbrach Hiroshi mein Nachdenken barsch und stapfte dann voraus.
27
Obwohl wir beide die Augen offen hielten, fanden wir nichts. Erschöpft kehrten wir zu der Stelle zurück, an der wir unsere Pferde angeleint hatten. Die Tiere suchten den Boden immer noch nach Gras ab, ein Frosch floh vor den gierigen Mäulern, die ihn zermalmen würden,
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