Die Sanddornkönigin
jungfräulich, kein Schuh lag herum, keine Jacke war achtlos in die Ecke geworfen worden. Die großen, massiven Holztüren waren alle sorgsam verschlossen, keine Musik war dahinter zu hören, es roch weder nach Mittagessen noch nach irgendetwas anderem.
»Ich kann mich hier nirgendwo entspannen«, sagte Hilke, und es wurde ihr zum ersten Mal richtig bewusst, dass es wirklich so war. Sie war hier nicht mehr zu Hause. Seit die Mädchen die Räume nicht mehr mit Leben füllten, war es hier wie ausgestorben. Und obwohl sie selbst damals die alten Seekarten hatte rahmen und aufhängen, obwohl sie die Stuckornamente an der Decke hatte restaurieren lassen, sie selbst, Hilke, vermochte es nicht, diesem Ganzen hier einen Sinn zu geben.
»Dann gehen wir ins Badezimmer«, sagte Gronewoldt und öffnete die Tür zur Linken, knipste das Licht an und trat ein. »Im Badezimmer finden wir am ehesten ein Gefühl von Intimität und Entspannung. Und wenn Sie, liebe Hilke, in dieser ausgesprochen großzügigen Marmorwanne liegen, dann können doch auch Sie sicher mal entspannt die Augen schließen, oder nicht?«
Es durchfuhr sie wie der Schreck, mit dem man in der Nacht aus einem schrecklichen Albtraum erwacht: Woher wusste Gronewoldt, wo das Badezimmer war? Einen kurzen Moment schlug ihr Herz wild und unbändig, doch dann schlich sich die Müdigkeit wieder ein, und sie vergaß den Gedankenblitz. Aber es blieb etwas zurück, etwas, das ihre Nackenhaare aufzurichten vermochte, das ihren Puls beschleunigte und sie in Atem hielt.
»Auf diesen Stühlen habe ich noch nie gesessen«, sagte sie leise, mehr zu sich selbst, bevor sie sich in einen der großen Korbsessel fallen ließ, die Beine anwinkelte und umfasste und den Kopf nach vorn beugte, sodass ihre stumpfen dunklen Haarsträhnen ins Gesicht fielen.
Dr. Gronewoldt nahm sein Diktiergerät hervor. Am Anfang hatte es sie gestört, dass er bei den Gesprächen ein Band mitlaufen ließ, aber nachdem er ihr erklärt hatte, dass ein Notizzettel in seinen Augen eine unnötige Distanz zwischen ihnen aufbaue und er diese Aufnahmen lediglich für seine der Schweigepflicht unterliegenden Unterlagen benötige, da hatte sie es akzeptiert, mittlerweile hatte sie sich sogar daran gewöhnt.
»Haben Sie Ihre Medikamente regelmäßig genommen?«
Sie nickte.
»Was ist passiert, Hilke?« Er beugte sich vor und berührte mit seinen fleischigen Händen ihre Schultern.
»Ich weiß es nicht genau. Mein Kopf ist so voll. Angst und Misstrauen, sogar Hass. Ich habe es einfach nicht mehr unter Kontrolle. Ich weiß nicht mehr, was ich getan und was ich nur gedacht habe, alles… wie soll ich sagen… alles vermischt sich immer mehr. Und dann ist etwas Grauenvolles geschehen.«
Er sah sie direkt an.
»Sie meinen, dass Ronja Polwinski ermordet worden ist.«
Ihre trockene Kehle ließ keinen Ton aus ihr herauskommen, sie schluckte nur.
»Ich habe es heute Morgen in der Zeitung gelesen«, fuhr er fort. »Was haben Sie damit zu tun?«
»Wenn ich es nur wüsste. Können Sie sich vorstellen, wie es ist, wenn man jemandem von ganzem Herzen nur Tod und Verderben wünscht und dann… dann geschieht so etwas?«
»Wollen Sie damit ausdrücken, dass Sie sich in irgendeiner Art und Weise schuldig fühlen?«
»Nein, ich fühle mich nicht schuldig, ich bin es!
All diese Gedanken an Blut und Rache…« Ein tiefes Schluchzen befreite sich aus ihrem Inneren und ebnete die Bahn für all die ungesagten Worte. »Diese Frau hat mein Leben zerstört. Ich habe sie gesehen, wie sie tot in den Dünen lag. Ich habe es immer und immer wieder vor Augen. Und ich kann nicht einmal mehr genau sagen, ob ich es geträumt habe oder nicht. Ich kann dies alles nicht mehr unterscheiden.«
Er lehnte sich wieder zurück, behielt sie aber im Auge.
»Sie meinen, es könnte eventuell sein, dass Sie es getan haben?«
Irgendetwas an seinem Tonfall ließ sie auf der Hut sein.
»Hilke, ich meine, trauen Sie es sich zu, die Geliebte Ihres Mannes umzubringen? Haben Sie denn überhaupt die Kraft dazu?« Sein Blick wurde geradezu hypnotisch. Sie schaute weg.
»Ronja war einen halben Kopf größer als Sie und gut durchtrainiert. Und Sie, liebe Hilke, haben morgens noch nicht einmal genug Energie, um aufzustehen. Wie wollen Sie Ihrer Nebenbuhlerin den Garaus machen, können Sie mir das vielleicht einmal erklären?«
Warum war er so wütend, so aggressiv? War dies auch einer seiner Psychotricks, mit denen er sie aus der Reserve locken wollte? Er
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