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Die Sanddornkönigin

Die Sanddornkönigin

Titel: Die Sanddornkönigin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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hatte mit Sicherheit schon oft an ihr herumexperimentiert, doch so heftig hatte er sie noch nie bedrängt. Sie zitterte, biss sich auf die Unterlippe, bis es schmerzte, und schließlich begann sie zu weinen. Nein, sie weinte nicht, sie heulte.
    »Wie haben Sie es gemacht, he? Haben Sie ihr mit einem Küchenmesser den Kopf abgeschlagen, oder sind Sie ihr von hinten an die Kehle gesprungen? Tut mir Leid, Hilke, das ist ausgemachter Schwachsinn, den Sie mir hier aufzutischen versuchen.«
    »Nein, nein, nein. Ich habe es getan! Ich habe es ihr so sehr gewünscht. Seit sie in diesem Hause ist, habe ich alles verloren. Meine Mädchen sind fort, mein Mann kleidet sich wie ein versnobter Gockel und will mich am liebsten auch von der Insel jagen, mein Zuhause wird zu einem Palast aus kaltem Stein umfunktioniert, und alles nur, weil sie es so wollte.« Hilke konnte sich selbst im großen Badezimmerspiegel sehen, wie sie schrie, wie sie fast flehend ihre Schuld herausschrie und dabei aussah wie eine Wahnsinnige.
    »Ich habe sie nicht getötet, aber ich habe ihr das Leben genommen. So wie sie es bei mir getan hat.«
    Er erhob sich und kam auf sie zu, nahm sie in den Arm und hielt sie fest.
    »Ich denke«, begann er in ruhigem Ton auf sie einzureden, »ich denke, Hilke, es ist Zeit für uns zu gehen. Wir beide kommen hier und auf diese Weise nicht mehr voran.«
    Sie erstarrte in seiner Umklammerung.
    »Was meinen Sie damit?«
    »Das wissen Sie, Hilke, das spüren Sie doch selbst. Wir laufen Gefahr, Sie zu verlieren. Wenn Sie mir schon so oft gesagt haben, Sie haben die Kontrolle verloren, Sie haben Ihr Leben nicht mehr im Griff, dann habe ich immer noch eine Möglichkeit gesehen, dass Sie es doch schaffen könnten. Doch diese Möglichkeit sehe ich nun nicht mehr.«
    »O Gott!«, entfuhr es ihr.
    »Sie wissen, Sie leiden unter Depressionen, unter Phobien, unter Tausenden von Zwängen. Und nun sind wir an dem Punkt angelangt, wo wir Sie vor sich selbst schützen müssen.«
    »Sie wollen doch nicht…«
    »Ich denke, wir wissen im Grunde beide, dass Sie nur in einer Klinik endlich zur Ruhe kommen können. Und wenn Sie es in diesem Augenblick auch noch nicht so sehen…«
    »Ich werde es niemals so sehen!«, schrie sie und versuchte hochzuschnellen, doch er hielt sie fest, drückte sie fast gewaltsam an seinen Oberkörper. Hilke wehrte sich, sie versuchte sich dem engen Griff zu entwinden, zerrte an seinen Armen, doch er ließ nicht locker. Vielleicht wollte er sie beruhigen, ihr ein Gefühl von Sicherheit vermitteln, doch alles, was sie fühlte, war heraufstürmende, schmerzhafte Panik.
    »Lassen Sie mich los, Doktor, ich will es nicht.«
    »Es ist das Einzige, was Ihnen noch helfen kann«, sagte er mit einer Stimme, der keinerlei Unruhe anzumerken war. »Es muss nicht für lange Zeit sein, glauben Sie mir. Nur so lange, bis sich der Mord aufgeklärt hat. Nur so lange, bis hier wieder Ruhe eingekehrt ist.«
    »Ruhe, Ruhe, diese verdammte Ruhe hat mich kaputtgemacht. Ich will nicht ruhig gestellt werden, ich will nicht fixiert werden. Es macht mich kaputt!«
    Er hatte begonnen, sie hin und her zu wiegen wie ein kleines Kind, das sich das Knie aufgeschlagen hatte. Alles in ihr bäumte sich auf, die Angst schoss ihr wie Hagelkörner gegen die Schädeldecke, der Sturm in ihrem Inneren tobte wild. Doch er gab ihr keine Chance, mit stoischer Ruhe ließ er seinen Plauderton auf sie hinabrieseln, und langsam fiel sie ein in seinen Atemrhythmus, der ein gleichmäßiges, fast schläfriges Spiel mit der Luft war. Einatmen, ausatmen, verharren, einatmen… sie fühlte, wie sich ihre Muskeln entspannten, wie sie nach und nach in seinen Schoß sackte und dort nach einer unendlichen Weile das Gleichgewicht wiederfand.
    Sie war ein freier Mensch, dies war ein freies Land, niemand würde so einfach in einer Irrenanstalt verschwinden.
    »Sie können es nicht tun, wenn ich es nicht will«, sagte sie und fühlte sich auf einmal sicher.
    »O doch«, sagte er in derselben Ruhe. »Ich denke, ihr Mann will auch nur das Beste für Sie, und auf diesem Band hier«, er holte mit einer Hand das Diktiergerät hervor und schaltete es aus, »auf diesem Band hier ist genügend zu hören, was mir die Zustimmung im Kollegenkreis sichern kann.«
    Angst raste durch ihre Adern, eine andere Art von Angst. Keine lähmende mehr, diese Angst setzte etwas frei in ihrem Körper, etwas, das ihr die Kraft gab, Gronewoldt mit einem gezielten, gewaltigen Ruck von sich zu stoßen.

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