Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
trank Wasser.
In den Weiden gab es zahlreiche Elstern, deren Gezänk er gern lauschte. Zuerst wagte Sun Bing sich nicht, die Hütte zu verlassen, doch allmählich gab er seine Vorsichtsmaßnahmen auf. Er freundete sich mit einem jungen Schafhirten namens Mu Du an, einem ehrlichen und schlichten Burschen, mit dem er seine Pfannkuchen teilte. Er verriet ihm auch, daß er der Sun Bing sei, der den deutschen Eisenbahningenieur erschlagen hatte.
Es waren seitdem fünf Tage vergangen. Sun Bing hatte seine Pfannkuchen gegessen, eine Schale frischen Wassers getrunken, lag dösend auf seinem Kang und lauschte dem Vogelgeschrei. Plötzlich erklang vom anderen Ufer her eine scharfe Gewehrsalve. Es war das erste Mal in seinem Leben, daß Sun Bing den Klang eines Schnellfeuergewehrs hörte. Mit den ihm bekannten Gewehren und Kanonen hatte dieses Geräusch nichts zu tun. Er erschrak heftig, denn es war klar, daß etwas nicht stimmte. Er sprang vom Kang auf und griff nach seinem Dattelholzstock. Es folgten weitere Salven. Er hielt das Warten in der Hütte nicht mehr aus und verließ sie geduckt. Vom Dorf her hörte er die Schreie seiner Frau, das Weinen seiner Kinder, das Wiehern von Pferden und aufgeregtes Hundegebell. Da er nicht sehen konnte, was am anderen Ufer vor sich ging, steckte er sich den Stock an die Hüfte und kletterte auf einen Baum. Die Elstern umflatterten ihn, und er wehrte sie mit seinem Stock ab. Dann hielt er sich an einem Ast fest und hielt Ausschau.
Vor seinem Haus standen mindestens fünfzig ausländische Pferde. Ausländische Soldaten in stattlichen Uniformen, auf den Köpfen federgeschmückte Hüte, hielten blaue Schnellfeuergewehre mit Bajonetten in den Händen und traten gegen seine Tür. Aus den Gewehrmündungen drang dichter weißer Rauch. Die Messingknöpfe an den Uniformen der Soldaten und die Bajonette funkelten im Sonnenlicht. Hinter den ausländischen Soldaten stand eine Reihe von Mandschu-Soldaten, mit weißen Abzeichen auf Brust und Rücken und mit roten Quasten geschmückten Strohhüten auf dem Kopf. Sun Bing wurde schwindelig, der Dattelholzstock glitt ihm aus der Hand, und er hatte Mühe, nicht herunterzufallen.
Nun war die Katastrophe tatsächlich eingetroffen. Aber es gab immer noch einen Funken Hoffnung. Seine Frau war eine begnadete Schauspielerin, und wenn ihn die Soldaten nicht fänden, würden sie vielleicht einfach wieder abziehen wie Qian Dings Schergen. Dennoch faßte er den Entschluß, falls er diesmal entkommen würde, sich seine Frau und seine Kinder zu schnappen und mit ihnen weit wegzugehen.
Doch statt dessen wurden seine schlimmsten Befürchtungen wahr. Er sah zwei deutsche Soldaten mit seiner Frau im Schlepptau den Deich hochkommen. Seine Frau sträubte sich, stieß spitze Schreie aus, und ihre Beine schleiften über den Boden. Ein weiterer Soldat hatte die Kinder gepackt. Auch Shitou befand sich in ihrem Gewahrsam. Aber er wehrte sich und biß einen der Soldaten in die Hand. Es gab ein Handgemenge, und seine kleine Gestalt rollte den Damm hinunter, direkt vor die Gewehrmündung eines Deutschen. Ein Bajonett blitzte kurz auf, dann wurde Shitou von einer Gewehrsalve durchlöchert und sank in sich zusammen. Sun Bing stand auf dem Baum und sah nur noch das Blut am Ende des Deiches aufleuchten. Ihm wurde schwarz vor Augen.
Alle deutschen Soldaten befanden sich nun auf dem Deich und beschossen das Dorf. Alle waren sie sehr gute Schützen – ein Schuß, und schon fiel auf der Straße oder in einem Hof ein Mensch getroffen vornüber. Der Mandschu-Trupp ritt auf Sun Bings Haus zu und steckte es mit einer Fackel in Brand. Erst stiegen schwarze Rauchwolken wie ein Wald gen Himmel auf, dann loderten goldgelbe Flammen lichterloh. Es krachte und knallte laut wie ein Feuerwerk. Ein heftiger Windstoß verteilte Rauch und Feuer in alle Richtungen. Der dichte dunkle Rauch und der Brandgeruch drangen bis zu Sun Bing vor.
Doch das Schlimmste sollte noch kommen. Sun Bing mußte mitansehen, wie einer der Soldaten seine Frau herumstieß und an ihr zerrte, daß es ihr die Kleider zerriß, bis sie splitternackt dastand. ... Sun Bing biß in die Rinde des Baums und schlug die Stirn gegen den Stamm. Sein Herz war wie ein Feuerball, der zum anderen Ufer hinüberfliegen wollte, aber er konnte sich nicht rühren. Der Deutsche hob den Körper seiner Frau hoch in die Luft und schüttelte sie, dann ließ er sie los – und seine Frau fiel wie ein großer, weißer Fisch in den Masang, in dem
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