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Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Titel: Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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eingefangen und geschlachtet zu werden.
    Zhao Jias Meister hatte damals eine Kiste unter dem Bett gehabt, in der er eine geheime illustrierte Abhandlung auf vergilbtem, brüchigem Papier aufbewahrte. Der Titel dieses Werkes lautete Die geheimen Aufzeichnungen des Qiu Guan , und laut Großmutter Yu handelte es sich um das Vermächtnis eines seiner Vorgänger aus der Ming-Zeit. Darin wurden alle möglichen Arten von Strafen und allerhand Kniffe zur Handhabung der Geräte zu ihrer Durchführung beschrieben. Mit seinen akkuraten Zeichnungen und den beigefügten Erläuterungen in Geheimschrift war es zweifelsohne ein Standardwerk der Henkerskunst. Der Meister hatte diese Abbildungen dazu benutzt, um seinen Schülern die Strafe der Zerstückelung detailgenau zu erklären. In dem Buch hatte es geheißen, daß die Zerstückelung sich in drei Klassen unterteilen lasse: Die höchste Klasse erfordere dreitausenddreihundertsiebenundfünfzig Schnitte, die zweite Klasse zweitausendachthundertsechsundneunzig Schnitte und die dritte Klasse eintausendfünfhundertfünfundachtzig Schnitte. Zhao Jia erinnerte sich, daß sein Meister betont hatte: »Egal, wie viele Schnitte du machst, erst mit dem letzten Schnitt darf der Verurteilte endgültig seinen Atem aushauchen.« Aus diesem Grund mußten die Intervalle zwischen jedem Schnitt gemäß dem Geschlecht und der individuellen physischen Konstitution des Delinquenten sehr sorgfältig kalkuliert werden. Falls der Verurteilte noch vor Erreichen der vollen Zahl von Schnitten zu Tode kam oder danach noch lebte, zählte dies als Versagen des Henkers. Großmutter Yu hatte auch gesagt, daß die herausgeschnittenen Stücke gleich groß und gleich schwer sein mußten, was vom Foltermeister eine vollkommen ruhige Hand, Konzentration und Entschlossenheit verlangte. Wie beim Brokatweben und beim Eselsschlachten führte jede Nervosität zu fatalen Ungenauigkeiten und Fehlern. Die Schnitte mußten mit traumwandlerischer Sicherheit ausgeführt werden.
    So weit zu kommen sei wahrhaft nicht einfach. Jeder Muskel des menschlichen Körpers habe eine unterschiedliche Dichte und entspreche nicht unbedingt dem Verlauf der Adern, weshalb Richtung und Stärke des Schnitts einer unbewußten Gewißheit des Henkers unterlägen. Großmutter Yu hatte gesagt, ein begnadeter Henker, wie die alten Meister Gao Tao oder Zhang Tang es waren, schneide nicht mit dem Messer und mit der Hand, sondern mit den Augen und mit dem Verstand. Daher gebe es auch bei dieser Hinrichtungsart trotz zahlloser Ausführungen kaum ein Beispiel, das man ein wahres Meisterwerk nennen könne. Die meisten hätten sich einfach darauf beschränkt, den Verurteilten in Stücke zu hacken und sterben zu lassen. Deshalb hätte auch die Anzahl der vorgegebenen Schnitte von Generation zu Generation abgenommen, so daß man heutzutage bei höchstens fünfhundert Schnitten angelangt wäre. Äußerst selten jedoch erlebe man eine vollendete Ausführung dieser fünfhundert Schnitte. Die Henker des Tribunals des Justizministeriums hielten ihren althergebrachten und heiligen Beruf in Ehren und respektierten die überlieferten Vorschriften bis ins Detail. Doch für ihre Kollegen in den Provinzen, Präfekturen und Landkreisen traf das schon nicht mehr zu. Dort mißbrauche ein Haufen hergelaufener Lumpen den Namen »Henker«. Wenn diese Pfuscher es bei einer vorgegebenen Strafe der Zerstückelung in fünfhundert Stücke auf zwei- bis dreihundert Schnitte brachten, war es schon nicht schlecht; in den allermeisten Fällen jedoch begnügten sie sich damit, dem Verbrecher acht Stücke herauszuschneiden, ihn dann totzustechen und fertig.
    Zhao Jia ließ das Stück, das er eben aus Qian herausgeschnitten hatte, zu Boden fallen. In der Sprache seiner Zunft nannte man das den »Dank an die Erde«.
    Als er das Stück aus dem Körper Qians vor dem Publikum kreisen ließ, hatte Zhao Jia das Gefühl, das absolute Zentrum der Aufmerksamkeit zu sein. Das Stück Fleisch auf seiner Messerspitze wiederum war der Mittelpunkt dieses Zentrums der Aufmerksamkeit. Vom erhabenen Yuan Shikai, dessen Arroganz zum Himmel stank, bis zu den einfachen Soldaten richteten sich aller Augen auf das in seiner Hand rotierende Messer, genauer gesagt, auf das Stück Fleisch auf dessen Spitze. Wenn Qians Fleisch nach oben flog, flogen aller Augen nach oben, sank es nach unten, sanken die Blicke mit ihm. In alter Zeit waren, nach den Worten seines Meisters, die einzelnen Stücke alle auf einem Tisch

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