Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
zwanzig Tote habe man gezählt. Wenn man angesichts eines so wundervollen Körpers nicht mit aller gebotenen Sorgfalt arbeite, sei das eine Sünde, ein richtiges Verbrechen. Man laufe Gefahr, vom aufgebrachten Mob selbst in Stücke gerissen zu werden. Das Publikum bei den Hinrichtungen in Beijing habe sich weltweit den Ruf erworben, in dieser Hinsicht ganz besonders anspruchsvoll zu sein. An jenem Tag habe er seine Sache gut gemacht und die Frau habe vorzüglich kooperiert. Es sei tatsächlich so etwas wie eine Opernaufführung gewesen, in der Foltermeister und Gefolterter gemeinsam die Hauptrollen gegeben hätten. Im Verlauf dieser Darbietung sei es natürlich nicht vorteilhaft, wenn der Gefolterte allzusehr schreie, wenn er aber gar keinen Laut von sich gebe, sei es auch nicht gut. Am besten wäre ein gleichmäßiges, rhythmisches Wimmern, das einerseits das geheuchelte Mitleid der Gaffer beflügelte und andererseits deren perversen Sinn für Schönheit. Es habe bei ihm zehn Jahre und tausend Hinrichtungen gedauert, bis er erkannte, daß alle Menschen Tiere mit zwei Gesichtern seien: auf der einen Seite seien sie moralisch und tugendhaft und auf der anderen Seite seien sie der Abschaum der Gesellschaft, Blutsauger und Lustmolche. Ganz gleich, ob es sich um ehrbare Männer und galante Jünglinge, um gesetzte Witwen oder jungfräuliche Bräute handelte – die Leute, die kamen, um sich anzusehen, wie der Körper dieses schönen Mädchens zerstückelt wurde, seien alle von einer Lust am Greuel getrieben worden. Die Zerstückelung einer schönen Frau sei die für die Menschen spektakulärste Inszenierung der Grausamkeit. Sein Meister war der Überzeugung, daß das Zuschauen bei diesem Schauspiel in Wirklichkeit noch wesentlich barbarischer sei als der Akt der Zerstückelung durch den Henker. Noch oft habe er sich in schlaflosen Nächten in seinem Bett herumgewälzt und sich an jene besondere Hinrichtung erinnert, wie ein berühmter Schachspieler, der sich an den genialen Zug erinnert, der ihn einst eine prestigeträchtige Partie gewinnen ließ. Für ihn setzte sich diese Schönheit, die er Stück für Stück auseinandergenommen hatte, in der Erinnerung Stück für Stück wieder zusammen. Er habe das Weinen und Schreien wieder im Ohr gehabt, und den Duft gerochen, den die Frau verströmte, während er sie zerschnitt, ein Duft, der einen in Ekstase versetzen konnte. An seinem Hinterkopf habe er eine kühle Brise verspürt, verursacht von den Flügelschlägen der hungrigen Raubvögel. In seiner leidenschaftlichen Erinnerung hatte der Meister in dieser Situation für einen Augenblick innegehalten, wie ein berühmter Operndarsteller, der in einer Pose auf der Bühne erstarrt. An der Frau war kaum mehr ein Stück Fleisch, aber ihr Gesicht war nach wie vor schön und unversehrt. Es blieb nur noch der letzte Schnitt. Mit einem tiefen Bedauern habe er ihr ein Stück ihres Herzens herausgetrennt. Es war leuchtend rot wie eine Dattel und zitterte auf seiner Messerspitze wie ein kostbares Juwel. Sein Meister, gerührt von ihrem blassen, ovalen Gesicht, habe gehört, wie sich ihre Lungen zu einem tiefen Luftholen weiteten; in ihren Augen blitzten noch ein paar Funken Leben auf, Tränen liefen ihr über die Wangen. Er habe gesehen, wie sie mit Mühe die Lippen bewegte und gehört, wie sie mit einem Stimmchen, so leise wie das Summen eines Insekts, die Worte »Unrecht ... ich bin unschuldig ...« von sich gegeben habe. Dann sei das Licht ihrer Augen erloschen und damit das Feuer ihres Lebens. Ihr Kopf, der sich während des Zerstückelungsprozesses immerzu bewegt hatte, sei mit einer weichen Bewegung nach vorn gefallen und habe ihr schwarzes Haar dargeboten, so schwarz wie Stoff, wenn er frisch aus der Färberei kommt.
Als Zhao Jia den fünfzigsten Schnitt machte, war Qian Xiongfeis Brustmuskelfleisch vollständig aufgebraucht. Zehn Prozent seines Werks waren bereits vollendet. Der Lehrling reichte ihm ein neues Messer, und er räusperte sich zweimal kräftig, um seine Atemwege frei zu machen. Er sah Qians Rippen aus seinem Brustkorb hervortreten, um die Rippen legte sich eine dünne Membrane, unter der das Herz pochte. Es sah aus wie ein in dünnen Stoff gewickeltes Kaninchen. Zhao Jia war in verhältnismäßig ruhiger Verfassung. Seine Arbeit ging gut voran, die Blutgefäße blieben intakt, und daß mit fünfzig Schnitten das gesamte Brustmuskelfleisch abgetrennt war, war ganz nach Plan. Was ihm weniger gut gefiel, war, daß
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