Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
Schwall kochendheißer Reissuppe über die Soldaten auf der Leiter.
Die erbärmlichen Schreie der Soldaten erschütterten den Präfekten und erfüllten ihn mit Angst und Schrecken. Er sah die Schützen rücklings von der Leiter fallen, während die noch am Fuß der Mauer stehenden Soldaten die Beine in die Hand nahmen, um eilig das Weite zu suchen. Die Rebellen auf der Mauer bejubelten ihren Erfolg und konnten sich kaum halten vor Lachen. Kurz darauf blies die kaiserliche Armee zum Angriff, und die gut ausgebildeten Infanteristen rückten geduckt gegen die Mauern vor und feuerten dabei unaufhörlich.
Als Qian Ding sah, wie die Boxer sich von der Mauer herab mit kochendem Wasser, heißer Reissuppe, Steinen und Ziegeln und sogar riesigen Staubsalven aus selbstgebauten Kanonen verteidigten, mußte er sich eingestehen, daß er Sun Bing unterschätzt hatte. Er hatte keinen Zweifel daran gehabt, daß der ehemalige Schauspieler in der Lage war, sich selbst zu mystifizieren und Unsterblichkeit vorzutäuschen, aber daß er über soviel militärische Kompetenz verfügte, hatte er sich nicht vorstellen können. Der Präfekt kannte dank seines enzyklopädischen Wissens die militärischen Theorien in- und auswendig. Sun Bing jedoch hatte sich diese, dank seiner Erfahrung auf dem Theater, nicht nur in der Theorie angeeignet, er konnte sie sogar erfolgreich in die Tat umsetzen. Nicht ohne Schadenfreude beobachtete er, daß auch die Einheiten der kaiserlichen Armee geschlagen wurden wie seine eigenen Soldaten. Sein Mut und sein Selbsvertrauen kehrten zurück.
Nun wollte man einmal sehen, wie sich die Deutschen hielten! Qian Ding warf einen Blick auf Knobel, der das Geschehen durch sein Fernglas verfolgte. Er konnte erkennen, wie Knobels Wangenmuskeln krampfartig zuckten. Die deutschen Soldaten, die ursprünglich direkt hinter der kaiserlichen Armee vorgerückt waren, verzichteten nicht nur auf einen Angriff, sondern zogen sich sogar noch ein Stück weit zurück. Es schien wie von langer Hand geplant. Knobel nahm sein Fernglas von den Augen und auf seinem Gesicht erschien ein verächtliches Lächeln. Er schrie den Kanonieren hinter ihm einen Befehl zu und sofort setzten sich die Soldaten, die bis zu diesem Moment völlig starr dagestanden hatten, in Bewegung. Kurz darauf gingen mit lautem Zischen zwölf Geschosse los, wie ein aufgeschreckter Krähenschwarm. Weißer Rauch stieg auf, und dann erklang der ohrenbetäubende Lärm der Explosionen. Qian Ding sah, wie Steine und Splitter der Mauer zusammen mit von der Explosion zerrissenen Körpern durch die Luft flogen. Eine neuerliche Salve folgte und es flogen noch mehr menschliche Gebeine durch die Luft. Aus den Mauern drang ein lautes Wehgeschrei. Das große Tor aus Pinienholz war in tausend Stücke zerborsten. Knobel wandte sich seinen Männern zu und ließ die rote Fahne, die ein Mann seines Gefolges hielt, schwenken. Mit lautem Kampfgeschrei stürmten die deutschen Soldaten auf ihren langen Beinen, die Gewehre in beiden Händen, durch das offene Stadttor. Die kaiserlichen Truppen hatten sich neu formiert und stürmten das Dorf von der anderen Seite. Nur die Soldaten des Präfekten lagen, mehr oder weniger verletzt, weiter hinten in der Ebene bäuchlings auf dem Gras und schrien nach Vater und Mutter.
In Qian Dings Brust tobten widersprüchliche Gefühle. Ihm war klar, daß das Dorf diesmal eingenommen werden würde und daß dann den Einwohnern Masangs kein Fluchtweg mehr aus dem Inferno bliebe. Die einst blühendste Gemeinde seiner Präfektur würde bald nur noch ein Trümmerhaufen sein. Angesichts der deutschen Übermacht überkam ihn Mitleid mit seinem Volk. Doch es war zu diesem Zeitpunkt bereits alles verloren. Nicht einmal mehr der Kaiser persönlich hätte die deutschen Truppen jetzt noch aufhalten können, wenn er hier erschienen wäre. Qian Ding schlug sich innerlich auf die Seite seiner Landsleute, er hoffte, daß die Geschlagenen noch vor dem Eindringen der deutschen Soldaten in das Dorf nach Süden flüchten könnten. Dort war zwar der Fluß, aber die Mehrheit der hiesigen Bevölkerung konnte schwimmen, und auch wenn ein Teil der kaiserlichen Infanterie an den Ufern Stellung bezogen hatte, bestand doch die Chance, daß auf diese Weise einige Dorfbewohner ihre Haut würden retten können. Außerdem war er sich sicher, daß seine Landsleute nicht auf Frauen und Kinder schießen würden, die versuchten, über den Fluß zu gelangen. Schließlich waren sie alle
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