Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
kräftig, daß er schließlich mit lautem Krachen auch noch den ganzen Knochen zermalmt und alles hinunterschluckt. Du armer Kerl, hätte ich gewußt, daß du dich für meinen Vater opfern wirst, hätte ich dir ein herrliches Bankett mit den besten Köstlichkeiten auf Erden ausgerichtet. Aber das hätte ich ja nicht ahnen können.
Kaum ist Kleiner Berg fertig, hält ihm der Achte Zhu schon das nächste Hühnerbein hin. Der Bettler lehnt mit einer höflichen Verbeugung ab und sagt: »Ich danke dir, Meister, für dieses wundervolle Mahl!«
Dann hebt er einen Stein auf und schlägt sich damit auf den Mund. Da liegt der Zahn auf dem Boden und aus dem Mund läuft das Blut.
Die Blicke der anderen wandern von dem blutüberströmten Mund Kleiner Bergs zum Achten Zhu. Dieser hebt den Zahn mit den Fingerspitzen vom Boden auf und fragt den Siebten Hou: »Wie viele Zähne hat Sun Bing verloren?«
»Nach Auskunft des Vierten Herrn waren es zwei.«
»Das hast du auch bestimmt richtig gehört?«
»Ganz bestimmt, Meister.«
»Das ist wirklich eine Sache ...« Der Achte Zhu wagt kaum, dem Kleinen Berg in die Augen zu sehen. »Ich bringe es nicht übers Herz, dich zu bitten, noch einmal ...«
»Macht Euch keine Gedanken, Meister, ob ein- oder zweimal, das ist doch dasselbe.« Kleiner Berg redet undeutlich und spuckt Blut durch seine Zahnlücke. Er nimmt den Stein.
»Nicht so schnell«, ruft der Achte Zhu streng.
Aber der Kleine Berg hat bereits ein zweites Mal zugeschlagen.
Er senkt den Kopf und spuckt zwei Zähne aus.
Beim Anblick der großen Lücke, die in seinem Mund entstanden ist, schimpft der Achte Zhu: »Idiot, ich habe doch gesagt, daß du warten sollst. Jetzt haben wir den Salat. Dir fehlt ein Zahn zuviel!«
»Meister, regt Euch nicht auf, ich werde einfach den Mund nicht aufmachen«, nuschelt der Kleine Berg.
3.
Um Mitternacht schleiche ich, gemäß der Anweisung des Achten Zhu in einer zerschossenen alten Jacke und mit einem alten Strohhut auf dem Kopf, gemeinsam mit den anderen Bettlern auf Zehenspitzen aus dem Tempel. In den Straßen ist es totenstill, kein Mensch ist zu sehen. Im blaßgrünen Licht des Vollmonds wirkt die Stadt gespenstisch. Ich zittere, und mir klappern die Zähne so laut, daß ich meine, das Geräusch müßte ganz Gaomi aufwecken.
Der Siebte Kleine Hou, mit seinem Affen auf der Schulter, führt unsere Gruppe an, gefolgt vom Kleinen Luanzi, einem großgewachsenen Burschen, der eine Schaufel trägt. Klein Luanzi ist als Draufgänger bekannt; für ihn gibt es kein Hindernis, das nicht überwunden werden kann. Neben ihm geht der Kleine Lianzi, der ein langes Lederband um die Taille gewickelt trägt. Von ihm sagt man, er könne jeden Baum erklimmen. Es folgt der großgewachsene Kleine Berg, dieser Heilige, dieser tugendhafte und loyale Mensch, der im Dienst seines Meisters nicht einmal vor der Selbstverstümmelung zurückgeschreckt ist. An diesen Helden wird man sich ewig erinnern. Seht ihn euch an, wie unerschrocken er geht, wie fest sein Schritt ist, als sei er auf dem Weg zu einem festlichen Bankett. Ein solcher Mensch wird nur alle paar hundert Jahre einmal geboren. Hinter ihm folgt der Bettlerkönig Achter Zhu, auch er eine wahrhafte Persönlichkeit, ein Mann der Tat. Er nimmt mich an der Hand, und ich fühle mich wie eine Prinzessin. Dann folgen noch eine ganze Reihe Bettler – wir sind eine illustre Gesellschaft.
Wir folgen dem Siebten Kleinen Hou durch die Hauptstraße, dann in die Gasse der Schmiede und zum Strohsandalenmarkt. Geduckt schleichen wir im Schatten der Mauern bis zur Gasse der Familie Lu, über die Brücke des Kang-Flusses, der aussieht wie ein leuchtend heller Silberstreifen. Hinter der Brücke liegt die Gasse der Ölverkäufer, und dann treffen wir auf eine hohe Mauer. Dahinter liegt der Garten des Yamen.
Atemlos und mit wild klopfendem Herzen hocke ich mich in den Schatten der Mauer. Von den Bettlern scheint keiner von unserem eiligen Marsch außer Atem zu sein. Ihre Augen leuchten im Dunkeln. Ich höre den Achten Zhu sagen: »Los!«
Der Kleine Lianzi nimmt das Lederband und wirft es wie ein Lasso nach oben. Es schlingt sich um eine Astgabel und der Kleine Lianzi hangelt sich geschickter als ein Affe den Baum hinauf. Schon schwingt er sich über die Mauer und ist auf der anderen Seite verschwunden. Dann wirft er uns von dort ein Seil zu. Zhu packt es und zieht daran, um zu prüfen, ob es hält, dann reicht er es an den Siebten Kleinen Hou weiter. Dieser wirft
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