Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
seinen Affen in die Luft, und während der Affe im Baum verschwindet, zieht sich der Mann, die Füße gegen die Mauer gestemmt, daran nach oben. Im Nu ist auch er auf der anderen Seite verschwunden. Wer ist jetzt an der Reihe? Der Achte Zhu gibt mir einen Schubs. Ich verliere beinahe die Nerven. Mit vor Angst feuchten Händen packe ich das kalte Seil, das sich wie eine Schlange anfühlt. Ich stemme mich mit den Füßen gegen die Mauer und ziehe mich hoch, aber meine Hände sind steif und meine Knie weich, und ich zittere am ganzen Körper. Vor nicht allzu langer Zeit bin ich ohne Hilfe auf den Baum geklettert, heute schaffe ich es nicht einmal mit Seil. Damals war ich eine elegante Katze, jetzt bin ich ein träges Schwein. Es hat bestimmt nichts damit zu tun, daß mir mein Vater weniger wichtig wäre als mein Patenonkel. Es liegt auch nicht an dem Kind, das in meinem Bauch wächst. Ich kann einfach nicht vergessen, daß mir diese Mauer schon einmal Unglück gebracht hat. Wie das Sprichwort sagt: »Ein gebranntes Kind scheut das Feuer.« Ich muß nur diesen Baum sehen, schon rieche ich den Gestank von Hundekot und mein Hintern tut mir weh. Da höre ich den Achten Zhu neben mir sagen: »Es geht um deinen Vater!«
Er hat vollkommen recht, ich muß mich zusammenreißen. Die Bettler riskieren ihr Leben für meinen Vater, und ich erweise mich als ein Hasenfuß. Ich mache mir Mut, indem ich an berühmte weibliche Helden der chinesischen Geschichte denke. An Hua Mulan zum Beispiel, die anstelle ihres Vaters in den Krieg zog und She Taijun, die als Hundertjährige einen Kommandeursposten übernahm. Ich verbanne Hundekot und Peitschenhiebe aus meinen Gedanken. Wer keinen Schmerz aushält, kann kein Unsterblicher werden, und wer sich nicht in Gefahr begibt, hat keine Chance, eine Heldenfigur in der Oper zu werden. Also beiße ich die Zähne zusammen, stampfe mit den Füßen auf und spucke in die Hände. Ich packe das Seil und stemme mich gegen die Mauer, das Gesicht dem Nachthimmel und dem leuchtenden Mond zugewandt. Die Bettler drücken mich am Hintern nach oben, und schon bin ich, als sei ich auf Wolken geritten, oben angelangt. Ich sehe die Dachziegel des Yamen, die im Mondlicht wie Fischschuppen glänzen. Unten wartet Hou auf mich, und ich ergreife das andere Seil, um mich daran in den Bambus hinabzulassen. Ich muß an die Momente denken, als ich mich mit Qian Ding im östlichen Salon geliebt habe. Da stand ich manchmal auf dem mit einem Baldachin versehenen Bett und lugte durch das Fenster hinaus in den herrlichen Garten des Yamen. Was mir zuerst ins Auge stach, war dieser smaragdgrüne Bambuswald. Und dann war da noch der bis zur Besinnungslosigkeit betörende Duft der Teerosen, der Pfingstrosen und des Flieders gewesen. Inmitten des Blumengartens sah ich einen künstlichen Hügel, der mit Bonsai-Chrysanthemen bepflanzt war. Kunstfertig bearbeitete Ziersteine aus Taihu umgaben einen Lotusteich, in dem sich die Lotusblüten einen Schönheitswettbewerb lieferten. Und dann die vielen Schmetterlinge inmitten dieser Blütenpracht, das Summen der Bienen. Eine Frau mit dunklem Teint ging in diesem Garten spazieren, mit einem Gesicht ernster als das des unbestechlichen Fürsten Bao. Ihr folgte eine Dienerin, gebeugt wie eine Weide, in eleganten Trippelschritten. Ich wußte, daß die Frau nicht gerade hübsch war, aber sie war die Gattin des Präfekten. Ich wußte auch, daß sie von allen Angestellten des Yamen gefürchtet wurde und daß Qian Ding große Stücke auf sie hielt. Damals wäre ich auch gerne in diesem Garten spazieren gegangen, aber Qian Ding hatte es mir ausgeredet. Er wollte, daß ich mich im Salon versteckt hielt; »der Gemahl des Morgentaus will nicht, daß die Leute seine Schöne sehn«. Und jetzt stehe ich in diesem Garten. Nur bin ich heute nicht zum Spazierengehen hier.
Als alle schließlich im Bambushain versammelt sind, ruft der Siebte Kleine Hou noch seinen Affen aus dem Baum. Wir hören, wie der Gong zur Dritten Doppelstunde der Nacht geschlagen wird. Aus dem vorderen Teil des Hofs hört man lautes Rufen – vermutlich ist die Wachablösung im Gang. Einen Augenblick später ist kein Laut mehr zu hören außer dem einsamen Zirpen der Herbstinsekten. Die Bettler verharren alle in vollkommener Stille, reglos, wie fünf schwarze Steine. Nur der Affe fängt manchmal an, herumzutoben, wird aber sofort von seinem Herrn gebändigt.
Im Westen geht der Mond unter. Sein Glanz ist eisig, und herbstlicher Tau
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