Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
habe ich mir damit meine Reisschüssel verdient. Was starrst du so? Glaube mir, ich habe schon viele gesehen, die die Augen aufgerissen haben – und so, wie ihr es noch nie gesehen habt. Niemand in der ganzen Provinz hat so etwas je gesehen, und es genügt, wenn ich euch davon erzähle, damit ihr euch vor Angst in die Hosen scheißt.
Im zehnten Jahr der Regierung des Kaisers Xianfeng stahl ein Palasteunuch mit dem Spitznamen Kleiner Wurm, der für die Luftgewehre des kaiserlichen Hofes zuständig war, das Sieben-Sterne-Gewehr Seiner Majestät des Kaisers. Dieses Gewehr hatte einst die Zarin von Rußland dem Kaiser als Tribut überreicht. Es war kein gewöhnliches Gewehr, sondern eine Wunderwaffe mit magischen Kräften. Der Lauf war aus Gold gefertigt, der Abzug aus Silber und der Kolben aus Sandelholz. Es war mit sieben Diamanten besetzt, jeder so groß wie eine Erdnuß. Für dieses Gewehr wurden ausschließlich Kugeln aus Silber benutzt, und es war dazu geschaffen, die Phönixe im Himmel und die Einhörner auf Erden zu erlegen. Seitdem Gott Pangu Himmel und Erde trennte, hat es nur ein einziges Gewehr von dieser Art gegeben, nichts kam ihm gleich. Als der Palasteunuch Kleiner Wurm eines Tages sah, daß Kaiser Xianfeng krank und unaufmerksam wirkte, packte ihn eine diebische Lust. Er stahl das Sieben-Sterne-Gewehr und verkaufte es. Es heißt, er habe dreitausend Silberstücke dafür bekommen, von denen er seinem Vater einen Landsitz errichtete. Dieses Kerlchen war aber zu sehr von sich überzeugt und ließ etwas ganz Grundlegendes außer acht: die Tatsache, daß der Kaiser der Drachensohn des Himmels ist. Und wer ein Drache und Sohn des Himmels ist, der ist an Weisheit jedem anderen Geschöpf überlegen. Ist der Himmelssohn denn nicht fähig, wie ein Prophet in die Zukunft zu blicken? Kaiser Xianfeng hatte ganz besondere magische Fähigkeiten. Seinen beiden Drachenaugen, den weisen Augen eines alten Mannes, entging nicht die geringste Kleinigkeit. Tagsüber bemerkte man kaum einen Unterschied zu gewöhnlichen Sterblichen, nachts aber ging ein Leuchten von ihnen aus, wie von Lampen, in deren Licht er stundenlang las und schrieb. Eines Tages, zu Beginn des Winters, äußerte der Kaiser den Wunsch, im Gebiet jenseits der Großen Mauer auf die Jagd zu gehen, und verlangte, daß man ihm das Sieben-Sterne-Gewehr brachte. Kleiner Wurm geriet in Panik und stammelte wirres Zeug. Erst behauptete er, ein weißhaariger alter Fuchs hätte das Gewehr gestohlen, dann sagte er, ein Kondor habe es entführt. Das Drachenantlitz Seiner Majestät wurde rot vor Zorn, und er ließ den Kleinen Wurm dem zuständigen Strafminister zum Verhör vorführen. Kaum hatten die Folterexperten ihm die Instrumente gezeigt, schon gestand der Junge alles.
Seine Majestät der Kaiser hatte Zornesblitze in den Augen, und er schnaubte vor Wut: »Kleiner Wurm«, rief er in der Thronhalle des kaiserlichen Palasts, »Wir verfluchen dich und deine Ahnen! Wie eine Maus, die die Katze am Hintern leckt, so dreist bist du. Wie kannst du es wagen, Unsere kaiserliche Familie zu bestehlen! Wenn Wir dir nicht eine besondere Lektion erteilen, sind Wir vergeblich Kaiser gewesen!«
So wurde entschieden, den Kleinen Wurm mit einer besonders grausamen Folter zu bestrafen, um ein Exempel zu statuieren: »Das Huhn töten, um es den Affen vorzuführen«, wie es heißt. Der Strafminister beauftragte die für die Strafen für Palasteunuchen zuständigen Experten, Seiner Majestät ein Menü aus sämtlichen in der Vergangenheit angewendeten Strafen vorzulegen. Es waren die üblichen Methoden: Man konnte von einer Platte erschlagen werden, von einer Eisenstange erdrückt werden, mit Bambusstöcken zu Tode geknüppelt werden, in einen Sack gesteckt werden, bis man darin erstickt, von fünf Pferden in Stücke gerissen werden oder in acht Teile gehackt werden ... Seine Majestät hörte sich eines nach dem anderen an, aber nichts befriedigte ihn. Unwirsch den Kopf schüttelnd, sagte er ein ums andere Mal: »Alles banal, viel zu banal, das ist doch wie ranzige Brühe.« Schließlich befahl er: »Mit dieser Angelegenheit müßt ihr die wahren Experten aus dem Justizministerium betrauen.«
Er gab die Anweisung, daß man sich eine grausamere Strafe überlegen solle, und nachdem der Justizminister den kaiserlichen Befehl vernommen hatte, begab er sich noch in der gleichen Nacht zu Großmutter Yu.
Wer Großmutter Yu ist? Niemand anders als mein Mentor und Lehrmeister. Natürlich
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