Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
Jia denkt nur an sich. Meiniang fürchtet seinen Tod, weil sie völlig den Verstand verloren hat. Meiniang, versteh doch, wenn er stirbt, läßt er diesen Ozean des Leidens hinter sich und steigt ins Paradies auf! Warum sollte er weiter diese grauenhafteste Folter der Welt erdulden, deren einziger Zweck darin besteht, zur Glorie der Eröffnungszeremonie der Eisenbahnlinie durch die Deutschen beizutragen? Jede Minute weiteren Lebens ist eine Minute des Leidens mehr, und nicht etwa eines gewöhnlichen Leidens, es ist ein Tanz auf scharfen Messern, ein Rösten in einer glühendheißen Bratpfanne. Andererseits, so sage ich mir, trägt jeder zusätzliche Tag, den er am Leben bleibt, zu seiner Legendenbildung bei, gibt ihm zusätzliches Pathos, hinterläßt einen stärkeren Eindruck im Gedächtnis des einfachen Volks und eine blutbesudelte Seite mehr in den Geschichtsannalen der Qing-Dynastie ... Solcherart sind meine Überlegungen, aber ich komme zu keinem Ergebnis. Ihn retten bedeutet das Schiff mit dem Wind segeln zu lassen; ihn nicht zu retten bedeutet gegen den Strom zu schwimmen. Schluß damit, das ist alles so aberwitzig, es ist zum Verrücktwerden! Sun Bing, was meinst du selbst? Mit großer Mühe hebt er leicht den Kopf, seine Lippen zittern, er stößt ein paar unverständliche Laute aus. Aus dem Schwarz seiner zusammengekniffenen Augen sticht ein heißer, roter Lichtstrahl, mitten in mein Herz. Sun Bings ungeheurer und hartnäckiger Lebenswille erschüttert mich zutiefst, einen Moment lang beherrscht ein einziger Gedanke meine Seele: Laß ihn leben! Man darf ihn einfach nicht sterben lassen, so schnell darf der Vorhang über dieser großen Tragödie noch nicht fallen!
Ich befehle meinen Leuten, die besten Ärzte der Präfektur herbeizuholen: Cheng Buyi aus Nanguan, der Experte für Chirurgie ist, und Su Zhonghe aus Xiguan, ein Fachmann für innere Medizin. Sie sollen die besten ihrer Arzneien mitbringen und sofort hierherkommen. Sie sollen ihnen sagen, daß dies ein Befehl Seiner Exzellenz Yuan Shikai, des Provinzgouverneurs von Shandong sei und daß jede Form von Widerstand gegen diesen Befehl den sicheren Tod bedeute.
Die beiden Soldaten schießen wie die Pfeile davon.
Einen weiteren Soldaten beauftrage ich damit, zum Papierladen von Meister Cheng »Flinke Hand« zu laufen und diesen mit all seinen Werkzeugen und Materialien hierher zu beordern. Dies sei ein Befehl Seiner Exzellenz des Provinzgouverneurs von Shandong und jeglicher Widerstand bedeute den sicheren Tod!
Der Soldat nimmt sogleich die Beine in die Hand und weg ist er.
Dem letzten erteile ich den Befehl, zur Schneiderei des pockennarbigen Zhang, dem Schneidermeister, zu laufen und diesen sofort mit sämtlichen Schneiderutensilien hierherzubeordern und außerdem solle er sechs Meter weißer Gaze mitbringen. Dies sei ein Befehl Seiner Exzellenz Yuan Shikai und jeglicher Widerstand bedeute den sicheren Tod!
Auch dieser Soldat eilt wie der Wind davon.
4.
Cheng Buyi ist lang und hager, er hat ein dunkles Gesicht und ein glattes Kinn, und an seinem Körper ist kein Gramm Fett zuviel. Er wirkt drahtig und agil. Su Zhonghe ist ein plumper, kleinwüchsiger Mann mit einem leuchtenden, großen Glatzkopf und einem kleinen weißen Spitzbart. Beide sind hochangesehene Persönlichkeiten in meiner Präfektur. Damals, bei dem Bartwettkampf zwischen mir und Sun Bing, saßen sie als Teil der Jury in der ersten Reihe. Su Zhonghe schleppt einen schweren Rucksack auf dem Rücken und Cheng Buyi trägt eine weiße Stofftasche in der Hand. Cheng wirkt unter seiner dunklen Gesichtshaut kreidebleich, es sieht aus, als ob ihm kalt wäre. Su dagegen schwitzt öligen Schweiß und ist ganz gelb im Gesicht. Sie knien auf der Plattform vor mir nieder, doch noch bevor sie ein Wort gesagt haben, lasse ich sie aufstehen und sage: »Es handelt sich hier um eine äußerst dringliche Angelegenheit und euer fachmännisches Wissen ist gefragt, meine Herren. Der Mensch hier vor euch ist euch wohlbekannt, und ihr wißt auch, warum er sich in diesem Zustand befindet. Der Befehl Seiner Exzellenz Yuan lautet, daß er bis zum Zwanzigsten dieses Monats überleben muß. Heute ist der Achtzehnte, es verbleiben also noch zwei Tage und Nächte. Wenn ihr ihn euch anseht, wißt ihr, warum ich euch herbestellt habe. Bitte tretet näher und tut, was in eurer Macht steht!«
Die beiden Doktoren wetteifern darum, wer dem anderen den Vortritt läßt, um den Patienten zu untersuchen und zu behandeln.
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