Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
sagt, daß es bei euch auch Theater gibt, daß ihr eure eigenen Bräuche habt – dann seht doch bitte genau hin und vergleicht, da muß es doch Ähnlichkeiten geben? Ihr dürft nicht glauben, daß diese Schauspieler euch provozieren wollen, ihr dürft sie nicht mit den Rebellen verwechseln, mit denen Sun Bing zum Widerstand gegen die Deutschen geblasen hat, auch wenn die Truppen Sun Bings in ähnlicher Weise kostümiert und bemalt waren. Was ihr jetzt vor Augen habt, sind ganz gewöhnliche Schauspieler. Es mag euch verrückt vorkommen, was sie auf der Bühne treiben, aber das gehört zur Tradition der Katzenoper, ihre Darbietung beruht auf uralten Überlieferungen: Man spielt für einen Toten, damit er in den Himmel aufsteige; man spielt für einen Sterbenden, damit er getröstet wird und leichten Herzens Abschied von der Welt nehmen kann. Heute spielen sie für Sun Bing, weil dieser eine wichtige Persönlichkeit in der Geschichte der Katzenoper ist. Er hat ihre Tradition fortgesetzt und ihr gleichzeitig neue Wege aufgezeigt. Ihm verdankt diese Oper ihren heutigen Ruhm. Es ist die letzte Darbietung, das letzte Geschenk der Schüler an ihren Meister, das ist doch nicht mehr als menschlich und richtig. Deutsche Soldaten, streckt eure Waffen, weg mit den Mausergewehren, ich flehe euch an, nehmt Vernunft an! Es ist schon so viel Blut den Masang hinabgeflossen, ein florierendes Dorf habt ihr dem Erdboden gleichgemacht. Habt ihr nicht auch Vater und Mutter, die euch großgezogen haben, habt ihr nicht auch ein Herz? Sind wir Chinesen für euch nichts anderes als seelenlose Hunde? Habt ihr keine Alpträume von dem Blut, das an euren Händen klebt?
»Nicht schießen!« schreie ich aus voller Kehle, während ich die Rampe hinaufrenne. »Waffen weg!«
Doch mein Rufen scheint den Deutschen wie ein Befehl zur Eröffnung des Feuers zu klingen. Eine Gewehrsalve gellt mir in den Ohren, es ist, als würden unzählige scharfe Messer den Himmel aufschlitzen. Aus den Gewehrläufen der Soldaten dringen weiße Rauchschwaden, die sich wie Schlangen gen Himmel winden und auflösen. Der Pulvergeruch beißt mir in die Nase und bewirkt ein diffuses Gefühl der Freude. Woher die Trauer kommt, ach, ich will es nicht wissen. Doch woher diese Freude? Ich weine und meine Tränen trüben mir die Sicht. Durch meine Tränenschleier kann ich sehen, wie die roten Gewehrsalven durch die Luft fliegen, langsam, sehr langsam, als ob sie unentschlossen wären, als ob sie eigentlich nicht ertragen könnten, was sie tun sollen, als ob sie keine andere Wahl hätten, als könnten sie jeden Moment die Richtung wechseln und gen Himmel fliegen, als ob sie stoppen wollten, die Zeit anhalten wollten, abwarten wollten, bis die Leute auf der Bühne in Deckung gegangen sind, bevor sie weiterfliegen, als ob sie von einem unsichtbaren Faden, der mit ihnen aus den Gewehrläufen der Deutschen kam, zurückgehalten würden. Gütige Kugeln, brave Kugeln, zärtliche Kugeln, sympathische Kugeln, abstinente, vegetarische, buddhistische Kugeln, macht doch noch etwas langsamer, wartet, bis all meine Leute sich auf den Boden geworfen haben, bevor ihr auftrefft! Aber diese dämlichen Bauern auf der Bühne machen keinerlei Anstalten, den Kugeln auszuweichen, im Gegenteil – sie scheinen geradezu abwartend bereitzustehen, um von den Kugeln durchlöchert zu werden. Als die heißen Kugeln sich in ihre Körper bohren, reißen einige die Arme hoch, stehen mit offenen Handflächen da, als wollten sie Blätter von den Bäumen reißen. Andere fassen sich an den Bauch, sinken zu Boden, das Blut quillt zwischen ihren Fingern hervor. Der Darsteller der Katze der Gerechtigkeit kippt mitten im Gesang mit seinem Stuhl um und sein Gesang bricht abrupt ab. Die erste Reihe der deutschen Schützen hat also vor allem auf die Schauspieler auf der Bühne gezielt. Zhao Xiaojia rutscht von seiner Stange herunter und sieht sich mit einem dämlichen Gesichtsausdruck nach allen Seiten hin um, bis er begreift, was los ist. Sich den Kopf haltend, läuft er hinter die Bühne und schreit: »Sie haben geschossen ... Es gibt Tote ...!«
Vermutlich haben die Deutschen nicht auf auf ihn geschossen, weil er seine Henkersuniform trägt. Das hat ihm wohl das Leben gerettet. Nun wechseln die Soldaten, die die erste Salve abgefeuert haben, in die hintere Reihe. Die nächste Reihe rückt vor und hebt das Gewehr. Ihre Bewegungen sind schnell und professionell. Kaum haben sie sich in Position gebracht, schon
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