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Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Titel: Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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Drache und die hohen Beamten seien Tiger. Der Tiger trug einen Beamtenhut mit blauer Perle und eine rote Amtsrobe, auf deren Vorderseite das Bild eines seltsamen Vogels gestickt war, ein Huhn, und doch wieder nicht, eine Gans, und doch wieder nicht. Er war von viel größerer und mächtigerer Statur als mein Vater, ein massiger Tiger neben einem grazilen Panther. Ein weißer Teigklumpen neben schwarzer Kohle. Der Sänfte entstiegen, trat er zu unserem Tor herein. Des Tigers Tritt ist von gemessenem Schritt. Der alte Igel eilte vor dem Tiger her in den Hof hinein und verkündete lauthals: »Seine Exzellenz der Präfekt ist eingetroffen!«
    Als der Tiger mir von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, bleckte er die Zähne, so daß ich vor Furcht die Augen zukniff. Ich hörte ihn sagen: »Du bist also Zhao Xiaojia?«
    Eilig verbeugte ich mich und antwortete: »Ja, so ist es, meine Wenigkeit ist Zhao Xiaojia.«
    Als ich mich verbeugte, sah ich den langen Schwanz, den er unter seiner Amtsrobe zu verbergen suchte, und der in unserem Hof ganz schmutzig geworden war. Ich sagte zu mir selbst: »Tiger, das Dreckwasser in unserem Hof ist voller Schweineblut und Hundekot, paß auf, daß sich nicht gleich die Schmeißfliegen auf deinem Schwanz niederlassen.« Ich hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, schon gingen die eben noch auf den Wänden faulenzenden Fliegen geschlossen zum Angriff über und besetzten mit lauten Gesumm nicht nur den Schwanz, sondern auch den Hut, die Ärmel und den Kragen Seiner Exzellenz. Das schien ihn aber nicht zu kümmern. Wohlwollend sagte er zu mir: »Xiaojia, bitte geh ins Haus und verkünde, daß die Präfektur um eine Audienz bittet.«
    Ich sagte: »Möge Seine Exzellenz doch selbst hineingehen. Mein Vater ist nämlich bissig.«
    Der Kriminalinspektor stellte seine Stacheln auf und sagte barsch: »Xiaojia, du wagst es, dich Seiner Exzellenz zu widersetzen? Mach, daß du gehst und deinen Vater herausrufst!«
    Seine Exzellenz Qian hob beschwichtigend die Hand und duckte sich, um sich in unseren Salon hineinzuzwängen. Ich folgte auf dem Fuß. Was würde passieren? Ich wollte mir die Szene nicht entgehen lassen. Würden sie sich anfauchen, die Nackenhaare sträuben, mit den grünen Augen blitzen und die weißen Zähne blecken? Der weiße Tiger taxierte den schwarzen Panther und der schwarzen Panther taxierte den weißen Tiger. Sie schlichen umeinander herum, keiner wollte eine Schwäche zeigen. Meine Mutter sagte, wenn zwei wilde Tiere sich im Angriff gegenüberstehen, dann versuchen sie den Gegner einzuschüchtern. Sie demonstrieren Stärke, zeigen die Zähne. Sobald der eine nachgibt, die Ohren anlegt, den Schwanz einzieht und den Kopf senkt, wird der andere ein bißchen brüllen und es dabei bewenden lassen. Wehe aber, wenn keine Seite zum Nachgeben bereit ist! Dann kommt es unausweichlich zum Kampf, und erst das ist ein sehenswertes Spektakel. Ich hoffte also, daß es zwischen meinem Vater und Seiner Exzellenz Qian zum Kampf käme, ohne daß einer vorzeitig die Waffen streckte. Noch immer umkreisten sich die beiden und wurden dabei immer aufgeregter. Vater wurde zu schwarzem Rauch, Seine Exzellenz Qian wurde zu weißem Rauch. Sie zogen ihre Kreise vom Salon weiter in den Hof, vom Hof auf die Straße, sie kreisten, bis mir ganz schummrig im Kopf wurde und sich mein Körper wie eine Spindel drehte. Dann verkeilten sie sich ineinander, im Schwarzen war Weißes; sie rollten sich zusammen zu einem Ei, im Weißen war Schwarzes; sie verknoteten sich zu einem Strang. Sie rollten von der Ostseite des Hofs zur Westseite, von der Südseite zur Nordseite, rollten die Hauswand hinauf und den Brunnenschacht hinunter. Plötzlich ein Aufheulen  – Hurrarufe, rammelnde Kaninchen, das Ende war abzusehen. Ich sah den schwarzen Panther und den weißen Tiger etwa drei Meter voneinander entfernt die Wunden lecken. Das Schauspiel dieses Kampfes ließ mich zutiefst aufgewühlt zurück. Wer von beiden der Sieger und wer der Besiegte war, blieb unentschieden. Während sie miteinander rangen, wollte ich meinem Panther-Vater zu Hilfe eilen, doch ich rührte keinen Finger.
    Seine Exzellenz Qian stand meinem Vater gegenüber. Geringschätzung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Und Geringschätzung stand auch meinem Vater ins Gesicht geschrieben. Er schien sich lustig zu machen über den Präfekten, der den Kleinen Kui halb totgeschlagen hatte. Mein Vater ist ein echter Panther  – aber er ist auch ein Affe, ein

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