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Die sanfte Entfuehrung des Potsdamer Strumpftraegers

Die sanfte Entfuehrung des Potsdamer Strumpftraegers

Titel: Die sanfte Entfuehrung des Potsdamer Strumpftraegers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Ritter
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auf der Stirn oder eine dumme Frisur hat, aber keine Ahnung von Tuten und Blasen?
    Ich hasse die Medien! Ich hasse die Sendung, und ich hasse Günther Jauch!
    Es ist sieben Minuten nach achtzehn Uhr. Ich klaube das Telefon vom Boden, schließe meine Zimmertür auf und mache mich auf den Weg runter in die Küche, um Herrn Müller und Katja mein Versagen zu beichten. Ich schwitze immer noch, vor allem aus den Augen. Vielleicht vorher noch mal ins Bad und kaltes Wasser ins Gesicht. Das Telefon im Halfter klingelt. Ja, super. Am besten hole ich den riesigen Sack Hoffnung jetzt sofort wieder aus der imaginären Abstellkammer, damit er endgültig zerplatzen kann, wenn auf dem Display »Mutti ruft an« steht. Ich sehe auf das Display: Nummer unterdrückt. Ich gehe ran.
    »Wildensorg und Müller, Wildensorg hier.«
    »Hallo, hier ist die Redaktion von Wer wird Millionär .«
    Mein Herz bleibt stehen.
    »Sie haben es geschafft!«
    Es ist wieder die gleiche Frau.
    »Ich bin in der Sendung?«
    »Nicht so übermütig. Sie sind in der zweiten Auswahlrunde!«
    Bitte?! Was soll das? Ich dachte, es sei schon alles geschafft. Ist Folter nicht verboten in der zivilisierten Welt?
    »Aha«, antworte ich geistreich und vielleicht etwas zornig.
    »Sie sind quasi in der Sendung, eine kleine Hürde gibt es noch zu meistern.«
    »Nämlich?«
    »Ich würde gern noch ein bisschen mit Ihnen plaudern, über Ihre Ecken und Kanten, Ihre Macken, darüber, was Sie mit der Million machen würden, vielleicht ein neues Auto kaufen und so weiter. Und es gibt da auch noch mal ein paar Auswahlfragen.«
    »Okay, fragen Sie!«
    »Außerdem würde ich Sie gerne dabei sehen. Haben Sie Skype?«
    »Ja.«
    »Wie wäre es nächste Woche Mittwoch?«
    Ich brauche nicht lange für die Antwort, und diesmal schließe ich mich ihrer Sprechgeschwindigkeit an: »Das sind noch sechs Tage. Bitte, können wir das irgendwann früher hinbekommen? Ich war jetzt schon nervlich ziemlich am Ende und dachte, wenn Sie mich anrufen, bin ich drin, und jetzt kommt noch was und das soll noch länger dauern als die Warterei bisher? In den letzten Minuten habe ich gedacht, ich bin schon draußen, weil Sie nicht bis zur Deadline angerufen haben und, also, Sie schicken mich da wirklich auf eine emotionale Achterbahnfahrt grade. Ich finde das nicht gut, gar nicht.«
    »Oh, Entschuldigung! Es hat einfach heute etwas länger gedauert mit der Terminplanung für die Videointerviews, und Sie sind im Alphabet eben weit hinten, deswegen rufe ich jetzt erst an.«
    »Wie viele andere sind es denn noch?«
    »Darüber darf ich leider keine Auskunft geben. Passen Sie auf, Sie sind quasi in der Sendung. Und ich habe quasi schon Feierabend. Ich kann Ihnen maximal noch Montag zwischen fünfzehn und sechzehn Uhr anbieten oder … morgen zur gleichen Zeit.«
    »Morgen zur gleichen Zeit!«
    »Na wunderbar, also morgen, fünfzehn Uhr. Ich schicke Ihnen dann noch eine Mail mit allem, was Sie wissen müssen und vor allem mit allem, was ich gerne von Ihnen wissen würde. Ich brauche dann nur noch Ihre E-Mail-Adresse und …«
    Ich liebe die Medien! Ich liebe die Sendung, und ich liebe Günther Jauch!
    Freitag, 15.00
    Vielleicht wäre es nicht dumm gewesen, mir eine Weltkarte hinter den Computer zu hängen. Nur zur Sicherheit, falls irgendwelche Geografiefragen kommen, die ich nicht sofort beantworten kann. Aber das wird nicht passieren. Ich bin gerüstet, ich bin klug, ich bin gut. Ein Motivationstrainer hätte mir das nicht besser einbläuen können, als ich selbst es getan habe. Arbeiten war ich wieder nicht, man muss schließlich Prioritäten setzen. Ich denke darüber nach – für den Fall, dass ich das Interview gleich gut hinbekomme –, eine Aushilfe für mich einzustellen. Mit anderen Worten: Ich werde eine Aushilfe einstellen müssen. Dann kann ich ein paar Tage lang in Ruhe und bauernhöfischer Abgeschiedenheit das ganze Wissen der Menschheit in mich aufsaugen. Herr Müller und Katja scheiden als Vertretung für mich im Laden aus, und zwar aus dem gleichen Grund. Erstens brauche ich sie für verschiedene Wissensgebiete zur Vorbereitung, zweitens bin ich in allen anderen Bereichen nicht von ihrer Zuverlässigkeit überzeugt. Herr Müller hat alle paar Wochen einen anderen Handlangerjob oder ein neues eigenes Unternehmen, meist nur in seinem Kopf, und Katja hat, glaube ich, noch nie richtig gearbeitet. Sie würde ohnehin den ganzen Tag lang nichts anderes als unsinnige Durchsagen über den Lautsprecher

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