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Die sanfte Entfuehrung des Potsdamer Strumpftraegers

Die sanfte Entfuehrung des Potsdamer Strumpftraegers

Titel: Die sanfte Entfuehrung des Potsdamer Strumpftraegers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Ritter
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machen. Das kann ich Frau Rottenbauer nicht antun. Annette auch nicht. Egal, es wird sich schon jemand finden, ist ja nur bis zur Aufzeichnung, und der bin ich in diesem Moment so nah wie nie. Das Skype-Anklopfgeräusch zieht mich mit seinen sphärischen Klängen in eine andere Realität. Ich starte die Kamera und nehme den Anruf an.
    Freitag, 15.46
    Es ist gar nicht gut gelaufen. Ich hatte ja erwartet, spätestens durch die Beispiele in der E-Mail, dass sie vielleicht eine einzelne lustige oder peinliche Geschichte aus meinem Leben hören will, aber dass es von fünfundvierzig Minuten Gesprächszeit vierzig Minuten lang ausschließlich um peinliche Geschichten gehen sollte, das war mir nicht so ganz klar. In dieser Mail, die sie mir gestern direkt nach dem Telefonat noch geschickt hat, standen sehr komische Dinge, komisch allerdings nicht im Sinne von lustig, sondern im Sinne von eigenartig:
    Überlegen Sie sich, welche außergewöhnlichen und skurrilen Situationen Sie schon erlebt haben. Welche Marotten zeichnen Sie aus und machen Sie besonders? Können Sie sich vielleicht nur auf dem Balkon die Zähne putzen und müssen dabei im Winter frieren? Fällt Ihr Onkel auf Geburtstagspartys immer in den Teich? Brüllen Sie beim Autofahren andere Fahrer oder noch besser Tiere an? Macht es Ihnen Spaß, Haare aus dem Abfluss in der Dusche zu ziehen …
    …und sie danach zu essen. Ich war mir sicher, dass diese Mail eine Art Scherz war. Jetzt bin ich klüger. Der ständig wiederholte Satz im Videointerview war: »Haben Sie vielleicht eine noch ausgefallenere Geschichte?« Ich meine, worum geht es denen eigentlich? Soll man nun da in die Sendung, um den Clown zu geben und sich vor allen lächerlich zu machen oder doch eher, um die Antworten zu wissen und Geld zu gewinnen? Ich hoffe, die nehmen es mir nicht zu sehr übel, dass ich nur Dorf- und Bauernhofgeschichten erzählt habe, aber bei mir passiert halt sonst auch nichts.
    Einen Moment lang hatte ich überlegt, einfach was über Herrn Müller zu erzählen und zu behaupten, ich hätte das alles erlebt. Seine Geschichten sind wirklich spannend. Er wollte zum Beispiel mal am Neujahrstag in einem Gebirgsbach baden, um sich abzuhärten. Die Strömung hat ihn dann ins Tal gespült, was so nicht beabsichtigt war. Bei der Familie, die ihn herausgezogen und aufgetaut hat, hat er dann eine Woche lang gewohnt. Jetzt ist er der Patenonkel von ihrem neuesten Kind.
    Davon abgesehen, dass ich nur langweiligen Schrott erzählt habe, wusste ich wieder alle Antworten. Allerdings gab es nur fünf Fragen, ganz am Anfang, und dann das Verhör, so bezeichne ich das mal. Du sitzt da, wirst gefilmt, eine Stimme spricht zu dir und animiert dich, Peinlichkeiten auszupacken. Richtig: eine Stimme; die Videoverbindung ist nämlich nur one-way, ich hatte kein Bild von ihr, und das war kein Versehen, das läuft immer so, hat sie gesagt. Ihren Namen hat sie mir auch nicht verraten, als ich gefragt habe. »Es geht hier doch um Sie«, hat sie gesagt, sehr freundlich im Übrigen. Dass die E-Mail nicht unterschrieben war, hatte ich vorher ebenfalls noch für ein Versehen gehalten. Jetzt weiß ich: Es ist System. Für den Kandidaten läuft dieser ganze Auswahlprozess genauso intransparent ab wie eine Papstwahl. Irgendwann kommt schwarzer oder weißer Rauch, und erst dadurch weiß man, ob es geklappt hat oder nicht. Was aber vorher hinter verschlossenen Türen vor sich ging, wird man nie erfahren. Irgendwie fühle ich mich jetzt schmutzig.
    Aber ich wusste alle Antworten! Hoffentlich rufen sie noch mal an, dann bin ich nämlich tatsächlich drin in der Sendung. Das heute war die letzte Hürde. Wirklich, die Stimme hat es mir versichert. Neue Deadline ist Dienstag, achtzehn Uhr.
    Montag, 20.15
    Katja hat Popcorn gemacht. Sie macht einfach so Popcorn! Ich finde nicht, dass Popcorn vor den Fernseher gehört, ich finde sowieso nicht, dass Popcorn eine natürliche Zwischendurchnascherei ist. Von Schokolade und Flips und Pistazien und Fischli ist Popcorn in meinem Empfinden meilenweit entfernt. Popcorn ist für mich eher exotisch, das gehört in einen anderen Kulturkreis. Es gehört vor allem nicht auf unseren Bauernhof. Was sollten unsere Nachbarn denken, wenn wir welche hätten? Heute machen sie sich einfach so Popcorn, morgen schmücken sie ihre Scheune mit zwanzigtausend Glühlämpchen, hissen die »Stars and Stripes« und knallen jeden ab, der einen Fuß auf ihr Grundstück setzt. Mit Popcorn geht das los.
    Das

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