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Die sanfte Entfuehrung des Potsdamer Strumpftraegers

Die sanfte Entfuehrung des Potsdamer Strumpftraegers

Titel: Die sanfte Entfuehrung des Potsdamer Strumpftraegers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Ritter
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letzte Mal Popcorn gegessen habe ich, als ich das letzte Mal im Kino war. 2009 war das, zusammen mit Herrn Müller. Es lief Slumdog Millionaire , ein Film über einen Gossenjungen, Jamal, der beim indischen Wer wird Millionär bis zum Ende durchspielt und zwanzig Millionen Rupien gewinnen kann. Ich fand ihn super, den Film. Habe mir danach direkt das Poster gekauft, das hängt jetzt über dem Fernseher, neben dem Autogramm von Günther Jauch. Mein Lieblingszitat aus dem Film ist ganz vom Anfang, als Jamal verhört und gefoltert wird, weil der Polizist ihm nicht glaubt, dass er nicht beschissen hat.
    Der schmierige Bulle sagt: »Professoren, Anwälte, Ärzte, Leute mit Allgemeinbildung schaffen nicht mal mehr als sechzehntausend Rupien. Er hat schon zehn Millionen. Was kann denn so ein Slumdog überhaupt schon wissen?« Und Jamal sagt: »Die Antworten.« Das war groß.
    Der Moderator bei Slumdog Millionaire ist ein ziemlich schleimiger Typ mit einer Menge Dreck am Stecken, der seine Kandidaten vor dem Publikum vorführt und ihnen sogar heimlich zuflüstert, dass sie nichts draufhaben. Ein Anti-Jauch. Gut, wer weiß, ob Jauch das nicht manchmal auch über einen Kandidaten denkt? Aber wenn er jemanden nicht mag, dann sagt er das nicht, dann macht er ihn nicht offensichtlich fertig. Nee, Jauch würde da eher sagen »Sie sind ja ’ne Nummer« und dabei das Gesicht verknautschen und eine Augenbraue hochziehen. Das wirkt aber schon ganz anders als das freundlich-anerkennende »Sie sind ja ’ne Nummer« in anderem Tonfall, dabei nickt er dann eher grinsend vor sich hin und faltet die Hände hinter dem Kopf und dreht sich auf seinem Stuhl hin und her. Man merkt es Jauch an, wenn ein Kandidat ihm Spaß macht. Und eben auch, wenn nicht. Aber charmant bleibt er trotzdem immer. Ich habe mir in all den Jahren, in denen ich Wer wird Millionär gucke, nie gedacht, dass Jauch gerade besonders fies zu einem Kandidaten war. Wenn er mal nicht direkt einen Joker anrät und der Kandidat dann rausfliegt, hat er es meistens auch verdient, finde ich. Jauch macht seinen Job gut, auf höchstem Niveau, das ist solide und unterhaltsam. So gehört sich das.
    »Willst du nun Popcorn, Paul?«
    »Nein danke.«
    »Du wirkst irgendwie abwesend.«
    »Bin ich nicht, ich bin voll da«, antworte ich Katja etwas pampig und beweise das auch sofort: »Der Kandidat studiert Maschinenbau und will sich eine weiße Vespa von seinem Gewinn kaufen.«
    »Nun sei mal ein bisschen freundlicher zu Katja, ja?«, mischt sich Herr Müller ein. »Du musst nicht denken, dass du jetzt schon der große Star bist, nur weil du da vielleicht in die bescheuerte Sendung kommst.«
    Er ist noch immer nicht drüber weg, dass ich und nicht er angerufen wurde. Ich würde meinen Zustand jederzeit mit ihm teilen. Er kann gerne was von meinem sich aufbauenden, psychosomatisch bedingten Magengeschwür abhaben. Das habe ich mir selbst diagnostiziert. Ich finde es nur logisch, dass ich körperlich und geistig am Ende bin und nicht mehr länger als eine Stunde am Stück schlafen kann. Das ist doch pervers. Du denkst dreimal, das war es jetzt und du bist endlich dabei, und noch immer ist der Weg auf den Stuhl so verdammt weit, selbst wenn du in die Sendung kommst. Machen die vom Fernsehen sich denn keine Gedanken, was sie den Leuten damit antun? Da geben sie einem mal eben die Möglichkeit, einen Blick auf ein paar Jahresgehälter zu werfen und sie sich vielleicht einzustecken. Ganz, ganz vielleicht. Woran sie es eigentlich festmachen, ob genau du die Chance bekommst, weiß niemand. Dass man sich in so einer Situation Gedanken macht, ist doch wohl klar. Womöglich hätte ich doch die Lebensgeschichte von Herrn Müller als meine verkaufen oder mir selbst ein paar abgefahrene Geschichten ausdenken sollen, die ich in der Sendung hätte erzählen können. Ich möchte auf einem Elefanten den Ärmelkanal überqueren, das wäre mein Favorit, so im Nachhinein. Hätte ich doch vorher mal nachgedacht, weshalb sie auch noch ein Videointerview drehen wollen. Ich hätte das richtig gut gemacht, wenn ich gewusst hätte, worum es überhaupt gehen soll.
    Ach, ist das alles scheiße, ich kann mich nicht mal auf die Sendung konzentrieren. Wie Katja und Herr Müller das Popcorn in sich reinfressen, hat irgendwie eine meditative Wirkung auf mich, die Stimme von Günther Jauch aus dem Fernseher ist ein guter Soundtrack dazu. Gerade sagt er »… wenn Sie den Zusatzjoker genommen hätten, wie ich Ihnen geraten

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