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Die sanfte Entfuehrung des Potsdamer Strumpftraegers

Die sanfte Entfuehrung des Potsdamer Strumpftraegers

Titel: Die sanfte Entfuehrung des Potsdamer Strumpftraegers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Ritter
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Pappaufsteller von dem Jungen mit den dichten schwarzen Haaren und den Welpenaugen anzufertigen und ihn vor den Laden zu stellen. »Hier bedient Sie freundlich: Etienne!« Vielleicht, wenn er dazu noch seinen Pullover auszöge … Annette ist sicherlich genauso begeistert von dieser Werbeaktion, wir haben schon lange nichts Innovatives mehr gemacht, eigentlich noch nie. Das wäre auch was völlig anderes als meine frühere Vision, den großen Durchbruch mit dem Verkauf von Bubble Tea zu schaffen. Etienne ist nämlich schon da und bedeutet keinen zusätzlichen Arbeitsaufwand, sondern im besten Fall das Gegenteil.
    Er überrascht mich nicht nur durch seine Erscheinung, sondern auch durch seine Folgsamkeit. Er hat sein Telefon tatsächlich eingesteckt und gibt mir die Hand.
    »Freut mich, ich bin Etienne«, sagt er und strahlt wie der Kinderriegel-Junge auf mich herab. Ich schmelze dahin und sehe mich schon in meinem Geldspeicher baden.
    »Wir beginnen den Rundgang bei der Tiefkühlkost«, sage ich dennoch in ganz geschäftsmäßigem Ton.
    »Etchen! Benimm dich! Auf Wiedersehen, Paul!«, sagt Frau Oberhaid.
    Ich höre, wie sie im Hinausgehen murmelnd ein »Gegrüßest seist du, Maria« anstimmt. Etiennes Vermittlung an uns scheint ihr eine große Last genommen zu haben.
    Mir genauso. Heute komplett und morgen halbtags werde ich ihn betreuen und einlernen, dann bleiben mir noch neun Tage, um mich mit größter Akribie auf die Sendung vorzubereiten. Ich nehme mir vor, Etienne während seiner Highspeed-Lehre ab und an ein paar Informationen aus der Jugend- und Popkultur zu entlocken; nur ganz nebenbei, von meiner Wer-wird-Millionär -Teilnahme werde ich ihm nichts erzählen. Das bleibt so geheim wie möglich, bis es im Fernsehen läuft. Nur keine zu hohen Erwartungen aufbauen, so versuche ich das auch intern zu handhaben. Wir sind an den Tiefkühltruhen angekommen, und ich beginne mit der Wissensvermittlung.
    »Was ist das, Etienne?«, frage ich ihn oberlehrerhaft und deute nach unten. Vor meinem inneren Auge blitzen die Buchstaben A, B, C und D auf.
    »Ein gefrorenes halbes Hühnchen.«
    »Richtig«, sage ich.
    Ich habe ein gutes Gefühl bei dem Jungen.
    Donnerstag, 11.40
    Etienne Oberhaid ist wirklich auffassungsstark. Das Kassieren hat er in einer halben Stunde gelernt. Natürlich ist er noch nicht so flott unterwegs wie ich. Über ein Jahrzehnt Kassiererfahrung lässt sich nicht so schnell aufholen, die Routine macht da viel aus. Es geht nicht nur darum, die Produkte über den Scanner zu ziehen, man muss außerdem auf den Kleingeldnachschub achten, Obst und Gemüse wiegen, zu jedem Kunden individuell freundlich sein, so wie er oder sie es eben gerne hat, und den Gesamtüberblick behalten und so weiter, keine leichte Sache. Aber Etienne ist im Bereich Multitasking auf Zack. Ich habe mittlerweile begriffen, dass er auf sein Telefon schauen und irgendwas darauf herumschieben und mir gleichzeitig zuhören und es kapieren kann. Vielleicht macht er sich auch Notizen auf dem Ding, wer weiß. So ist das eben mit den jungen Leuten. Er will nichts verpassen, hat er gesagt, immer informiert sein, deswegen schaut er alle zwei Minuten auf seinem Telefon nach, ob sich was getan hat in der Welt oder bei seinen Freunden, könnte immerhin jemand eine neue Freundin oder eine neue Frisur haben. Jetzt habe ich ihn an Annette und die Wursttheke weitergereicht. Ich habe noch etwas vor und nicht viel Zeit dafür, gleich ist Mittag.
    Frau Rottenbauer scheint sehr in eine Zeitschrift vertieft. Das sagt mir auch ihre Körpersprache. Sie krümmt sich regelrecht auf ihrem Stühlchen über einem Artikel, der, von meiner gehobenen Position aus gesehen, aus mindestens neunzig Prozent Bildern besteht. Auf hundert Prozent der Bilder sieht man Heidi Klum.
    Ich stelle mich direkt vor Frau Rottenbauer und warte darauf, dass sie aufschaut. Sie schaut nicht auf, obwohl sie meinen Schatten längst bemerkt haben muss. Ich räuspere mich, um ihre Aufmerksamkeit von Heidi Klum weg auf mich zu lenken. Sie schaut nicht auf.
    »Ähm, Frau Rottenbauer?«, versuche ich es vorsichtig.
    Sie schaut nicht auf, hebt aber einen Finger. »Pscht«, sagt sie. Die Geste ist klar: Sie möchte erst fertig lesen, dann bin ich dran. Ich halte mein Anliegen aber für bedeutsamer als einen Klatschartikel.
    »Frau Rottenbauer, es ist wichtig.«
    »Paul«, sagt sie, ohne aufzublicken, »Paul, wenn ich immer gleich gerannt wäre, wenn meine Kinder mir am Rockzipfel gezogen haben,

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