Die sanfte Entfuehrung des Potsdamer Strumpftraegers
Wurst und Käse hab ich vorgeschnitten und abgepackt. Sozusagen arbeite ich also auch jetzt noch, immer, wenn ein Kunde eines von den Päckchen nimmt.«
Eine bestechende Logik.
»Wir wollten einfach mal so privat vorbeischauen. Du lässt dich in letzter Zeit so selten blicken.«
Wen meint sie denn mit wir? Annette war noch nie ein Wir. Annette war immer Annette. Entweder ist sie von gestern auf gleich schizophren geworden, oder ich verpasse wirklich Entscheidendes in ihrem Leben, weil ich anderen Hobbys nachgehe und mich kaum noch im Laden zeige.
»Willst du nicht wissen, wer Wir ist?«, fragt sie.
»Doch, darüber habe ich grade nachgedacht.«
Katja wirkt eher gelangweilt und hängt beteiligungslos im Türrahmen. Wie ein Kind, das zwischen Erwachsenen herumstehen muss, statt spielen gehen zu dürfen. Ich würde ihr gerne mit einem großväterlichen Gutmütigkeitsgrinsen einen Klaps auf den Po geben und sagen: »Na geh schon, Kleine. Geh spielen, hopp hopp.« Und dann würde sie die Treppe hinab davon ins Freie hopsen und einfach rennen, rennen, weil sie es darf, und weil sie ihre Freiheit genießt. Ab und an würde sie hochspringen, »Yippie, yippie« rufen und die Füße in der Luft zusammenschlagen. So lange, bis die untergehende Sonne am Horizont sie verschluckt. Ich glaube, ich sehe zu viele kitschige Filme.
»Wer ist denn wir?«, stellt Katja nun die erwartete Frage, weil ich meinen Einsatz verpasst habe.
»Ich … uuuuuund …«
Eine solche Spannung habe ich zuletzt erlebt, als ich die Lindenstraße geschaut habe, sich der Fahrstuhl geöffnet hat und ich schon vorher wusste, dass Klaus Beimer aussteigen wird. Weil er vorher eingestiegen ist.
»… Achim!«
Aha. Und wer ist Achim?
Die Frage beantwortet sich dadurch, dass der Obst- und Gemüsemann an Annettes Seite springt.
»Huch«, sagt Katja.
Hat er sich wirklich für diesen Überraschungseffekt bis eben an die Hauswand gequetscht, damit wir ihn nicht sehen?
»Ach, Achim!«, rufe ich aus und spiele den Überraschten. Die Chancen, die beiden schnell wieder loszuwerden, haben sich durch seinen Auftritt nicht grade maximiert. Er hält eine bedrohlich groß wirkende Tüte in der Hand. Was da wohl drin ist?
»Wir haben Bienenstich mitgebracht«, sagt Achim und drückt Katja die Tüte in die Hand.
Ein Dilemma. Da kriegen wir zum ersten Mal Besuch von Menschen aus meinem Bekanntenkreis, sie bringen Kuchen mit und wollen sich nett unterhalten. Und ausgerechnet jetzt habe ich Günther Jauch in meinem Haus versteckt und will sie eigentlich gar nicht reinlassen. Aber ich mag Bienenstich.
»Kommt doch rein«, sage ich, weil alles andere wochenlange Spekulationen nach sich ziehen würde, die wir nun wirklich nicht gebrauchen können. Ich klopfe dem Gemüsemann freundschaftlich und mit einem Zwinkern auf die Schulter. So machen das Männer, die sich zu neuen Eroberungen beglückwünschen, das vermute ich zumindest. Ob ich noch einen lockeren Spruch bringen soll, irgendwas mit »flotte Biene« und »Bienenstich«? Hm, später vielleicht, wenn ich mir einen ausgedacht habe, der ausreichend spontan klingt.
Ich führe die beiden in die Küche, Katja folgt, Herr Müller empfängt uns am Küchentisch. Er hat die Zeit genutzt, um Spuren zu verwischen und Herrn Jauchs Teller vom Tisch zu räumen. Das nenne ich löbliches Mitdenken, so gefällt mir die organisierte Kriminalität.
»Mi casa es su casa«, begrüßt Herr Müller die neuen Gäste und lädt mit ausgebreiteten Armen jovial dazu ein, Platz zu nehmen.
Dienstag, 12.40
So langsam wird es lang. Wie das bei Kaffee- und Kuchenrunden leider öfter üblich ist, wurden die spannenden Informationen ganz am Anfang verschossen, und man ist schon bald ins Allgemeine geraten. Jeder steuert eine relativ unspektakuläre Anekdote aus seinem Leben bei, die er mit »Ihr werdet lachen!« einleitet, damit die anderen wissen, was sie zwei Minuten später zu tun haben, und dann dient irgendwann jeder rostige Nagel als Steigeisen, um die Unterhaltung am Laufen zu halten. Eigentlich war nicht mal der Beginn spektakulär. Annette und der Gemüsemann, ich habe seinen Namen schon wieder vergessen, haben sich nach einer unerträglich langen Zeit der Anflirterei (so haben sie es nicht exakt ausgedrückt, das war eher mein Eindruck) endlich auch mal nach der Arbeit getroffen, beim Italiener. Das war vor einer Woche. Zwischenzeitlich waren sie auch mal zusammen im Wellnessbad und im Hexenbesen. Der Besuch bei uns ist ein weiterer
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