Die Satanischen Verse
die Fakten sehr genau geprüft werden. Die menschliche Rasse steht vor Gericht, und sie ist eine Angeklagte mit einem ansehnlichen Vorstrafenregister: eine Geschichtsklitterin, ein faules Ei. Es müssen sorgfältig Bewertungen vorgenommen werden. Im Augenblick steht das Urteil noch nicht fest; es wird zu gegebener Zeit verkündet werden. Einstweilen jedoch muss meine Anwesenheit hier ein Geheimnis bleiben, aus elementaren Sicherheitsgründen.« Er setzte den Hut wieder auf, war mit sich zufrieden.
Maslama nickte wild. »Sie können sich auf mich verlassen«, versprach er. »Ich bin ein Mann, der das Privatleben eines jeden Menschen respektiert. Diskretion« - zum zweiten Mal!
»Ehrensache.«
Gibril floh in höchster Eile aus dem Abteil, verfolgt von den Hymnen des Wahnsinnigen. Noch während er bis zum Zugende rannte, konnte er Maslamas Lobgesänge leise erklingen hören. » Alleluja ! Alleluja !« Offenbar hatte sich sein neuer Jünger in ein Potpourri aus Händels Messias gestürzt.
Aber: Gibril wurde nicht verfolgt, und zum Glück gab es auch ein Erste-Klasse-Abteil am Schluss des Zuges, mit bequemen orangefarbenen Sitzen, die zu viert um Tische gruppiert waren, und Gibril ließ sich an einem Fenster nieder, um London entgegenzusehen, mit pochendem Herzen und tief ins Gesicht gezogenem Hut. Er versuchte, die unbestreitbare Tatsache des Heiligenscheins zu bewältigen, und schaffte es nicht, denn jetzt, da der Wahnsinn von John Maslama hinter ihm und die Aufregung mit Alleluja Cone vor ihm lag, fiel es ihm schwer, seine Gedanken zu ordnen. Dann kam zu seiner Verzweiflung Mrs. Rekha Merchant neben sein Fenster geschwebt, auf ihrem fliegenden Buchara, offenbar unempfindlich gegen den Schneesturm, der sich dort draußen zusammenbraute und England wie ein Fernsehgerät nach Sendeschluss aussehen ließ. Sie winkte ihm kurz zu, und er spürte, wie seine Hoffnung versiegte. Vergeltung auf einem frei schwebendem Teppich: er schloss die Augen und konzentrierte sich darauf, nicht zu zittern.
»Ich weiß, was ein Geist ist«, sagte Allie Cone zu einer Klasse weiblicher Teenager, deren Gesichter von dem sanften inneren Licht der Verehrung erleuchtet waren. »In den Höhen des Himalaja geschieht es so manchem Bergsteiger, dass ihn die Geister derer begleiten, die beim Versuch der Besteigung gescheitert sind, oder die noch traurigeren, aber auch stolzeren Geister derer, denen es gelang, den Gipfel zu erreichen, und die dann den Abstieg nicht überlebten.«
Draußen, auf den Fields, legte sich der Schnee auf die hohen, kahlen Bäume und die weiten Rasenflächen des Parks.
Zwischen den niedrigen, düsteren Schneewolken und der mit einem weißen Teppich bedeckten Stadt war das Licht von schmutziggelber Farbe - ein verhaltenes, nebliges Licht, das die Herzen abstumpfen ließ und das Träumen unmöglich machte.
Dort oben, erinnerte Allie sich, dort oben in achttausend Meter Höhe, war das Licht von solcher Klarheit, dass es mitzuschwingen, zu singen schien, wie Musik. Hier im Flachland war auch das Licht flach und erdenschwer. Nichts flog hier, das Riedgras war verdorrt, und kein Vogel sang. Bald würde es dunkel sein.
»Miss Cone?« Die vielen in die Luft gereckten Hände holten sie zurück ins Klassenzimmer. »Geister, Miss? Ganz oben?« -
»Sie wollen uns auf den Arm nehmen, stimmts?« In ihren Gesichtern rang Skepsis mit Bewunderung. Sie kannte die Frage, die sie eigentlich stellen wollten, aber wahrscheinlich nicht stellen würden: die Frage nach dem Wunder ihrer Haut.
Sie hatte sie aufgeregt tuscheln hören, als sie das Klassenzimmer betrat; es is’ wahr, guckt mal, wie bleich, is’ ja unglaublich. Alleluja Cone, deren Eiseskälte dem Ungestüm der Sonne in achttausend Meter Höhe trotzen konnte. Allie, die Schneejungfrau, die Eiskönigin. Miss, wieso werden Sie eigentlich nie braun? Als sie mit der siegreichen Collingwood-Expedition auf den Everest s tieg, nannten die Zeitungen sie »Schneewittchen mit den sieben Zwergen«, obwohl sie kein Walt-Disney-Püppchen war: die vollen Lippen eher blass als rosenrot, das Haar eisblond statt schwarz, die Augen nicht in aller Unschuld aufgerissen, sondern zusammengekniffen, aus Gewohnheit, zum Schutz vor grellem Sonnenschein. Eine Erinnerung an Gibril Farishta stieg in ihr auf, packte sie unerwartet: Gibril, der irgendwann während ihrer dreieinhalb Tage mit seinem üblichen Hang zum Tritt ins Fettnäpfchen dröhnte: »Baby, du bist kein Eisberg, egal, was die anderen sagen.
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