Die Satanischen Verse
Du bist ein leidenschaftliches Weib, Bibi. Scharf und heiß wie ein frischgebackenes Kachori.« Er hatte auf seine Fingerspitzen gepustet, als wären sie verbrannt, und dazu noch die Hand geschüttelt: Viel zu heiß. Wasser, schnell. Gibril Farishta. Sie riss sich zusammen: Auf, auf, an die Arbeit.
»Geister«, wiederholte sie in entschiedenem Ton. »Als ich bei meiner Everestbesteigung durch den gefrorenen Wasserfall gekommen war, da sah ich einen Mann auf einer Felsnase hocken, im Lotussitz, mit geschlossenen Augen und einer Schottenkaromütze auf dem Kopf, der das alte Mantra sang: om mani padmé hum.« Aus seiner altmodischen Kleidung und seinem überraschenden Verhalten hatte sie sofort geschlossen, dass es der Geist Maurice Wilsons war, des Yogi, der sich im Jahre 1934 auf einen Alleinaufstieg auf den Everest vorbereitet hatte, indem er drei Wochen lang hungerte, um die Bindung zwischen seinem Körper und seiner Seele so sehr zu festigen, dass der Berg nicht die Kraft haben würde, sie auseinanderzureißen. Er war in einem kleinen Flugzeug hinaufgeflogen, soweit es ihn trug, dann absichtlich in einem Schneefeld bruchgelandet, Richtung Gipfel losgeklettert und nie zurückgekehrt. Wilson öffnete die Augen, als Allie vorbeikam, und nickte kurz zur Begrüßung. Den Rest des Tages schlenderte er neben ihr her oder hing in der Luft, während sie sich an einer Wand hocharbeitete. Einmal, an einem steilen Hang, machte er eine Bauchlandung in den Schnee und glitt dann bergaufwärts, als würde er auf einem unsichtbaren Anti-Schwerkraftschlitten fahren. Allie war aufgefallen, dass sie sich ganz natürlich benahm, so als hätte sie zufällig einen alten Bekannten getroffen, aus Gründen, die sie später nicht mehr wusste .
Wilson schwatzte einfach drauflos - »Hab’ dieser Tage so oder so nicht viel Gesellscha ft« - und äußerte unter anderem seine große Enttäuschung darüber, dass im Jahre 1960 die chinesische Expedition seine Leiche gefunden hatte. »Und die kleinen gelben Scheißer hatten wirklich die Stirn, die Dreistigkeit, meinen Leichnam zu filmen.« Alleluja Cone war beeindruckt von dem leuchtenden schwarz-gelben Karo seiner makellosen Knickerbockerhose. Das alles erzählte sie den Mädchen der Brickhall Fields Girls’ School, die sie in so vielen Briefen darum gebeten hatten, einen Vortrag zu halten, dass sie einfach nicht hatte nein sagen können. »Sie müssen kommen«, schrieben sie in ihren Briefen. »Sie leben doch auch hier.« Vom Fenster des Klassenzimmers aus konnte sie durch das dichter werdende Schneetreiben ihre Wohnung am anderen Ende des Parks gerade noch erkennen.
Was sie der Klasse nicht erzählte, war folgendes: wie Maurice Wilsons Geist in aller Ausführlichkeit seinen eigenen Aufstieg, aber auch seine posthumen Entdeckungen beschrieb, zum Beispiel das langsame, umständliche, unendlich delikate und stets unproduktive Paarungsritual des Yeti , das er kürzlich auf dem Südpass miterlebt hatte, so dass ihr der Gedanke kam, ihre Vision dieses Exzentrikers aus dem Jahr 1934, des ersten Menschen, der je versucht hatte, den Everest ganz allein zu besteigen, der also selbst eine Art scheußlicher Schneemensch war, sei gar kein Zufall gewesen, sondern ein Wegweiser, ein Zeichen von Verwandtschaft. Eine Prophezeiung für die Zukunft vielleicht, denn in diesem Moment geschah es, dass ihr heimlicher Traum geboren wurde, dieses Ding der Unmöglichkeit; der Traum vom Alleinaufstieg. Doch es konnte auch sein, dass Maurice Wilson ihr Todesengel war.
»Ich wollte mit euch über Geister sprechen«, sagte sie, »weil die Bergsteiger, die vom Gipfel herunterkommen, meistens verlegen sind und diese Dinge nicht zur Sprache bringen. Aber sie existieren wirklich, das muss ich zugeben, obgleich ich zu den Leuten gehöre, die mit beiden Füßen fest auf der Erde stehen.«
Das war ein Witz. Ihre Füße. Schon vor der Everestbesteigung hatte sie angefangen, an stechenden Schmerzen zu leiden, und wa r von ihrer praktischen Ärztin, einer nüchternen Person aus Bombay namens Dr. Mistry, darüber aufgeklärt worden, dass ihre Fußgewölbe zusammengebrochen waren. »Das heißt, Sie haben Plattfüße.«
Ihre von jeher schwachen Fußgewölbe waren durch jahrelanges Tragen von Turnschuhen und anderem unpassenden Schuhwerk weiter geschwächt worden. Dr. Mistry konnte ihr nicht allzu viel raten: Übungen mit den Zehen, barfuß die Treppe rauflaufen, vernünftige Fußbekleidung. »Sie sind noch jung«, sagte sie.
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