Die Satanischen Verse
»Wenn Sie achtgeben , wird sich’s aushalten lassen. Wenn nicht, werden Sie mit vierzig ein Krüppel sein.« Als Gibril - verdammt! - erfuhr, dass sie den Everest mit Messern in den Füßen erklommen hatte, verfiel er darauf, sie sein China-Girl zu nennen. Er hatte ein Märchenbuch gelesen und darin die Geschichte von der Seejungfrau gefunden, die das Meer verließ und Menschengestalt annahm, um des Mannes willen, den sie liebte. Sie bekam Füße statt Flossen, aber jeder Schritt, den sie tat, war eine Qual, als würde sie über zerbrochenes Glas gehen; und doch ging sie weiter, immer geradeaus, fort vom Meer und übers Land. Du hast es für so einen blöden Berg getan, sagte er. Würdest du es auch für einen Mann tun?
Sie hatte die Fußschmerzen vor ihren Bergsteigerkollegen verheimlicht; so überwältigend war der Reiz des Everest gewesen. Aber die Schmerzen waren immer noch da und wurden mit der Zeit stärker. Ihr waren die Füße durch Zufall eingebunden worden, durch eine angeborene Schwäche. Ende des Abenteuers, dachte Allie; im Stich gelassen von meinen Füßen. Das Bild der eingebundenen Füße ging ihr nicht aus dem Kopf. Gottverdammte Chinesen, dachte sie, ein Echo von Wilsons Geist.
»Für manche Menschen ist das Leben so einfach«, hatte sie in Gibril Farishtas Armen geschluchzt. »Warum gehen denen nicht die Füße kaputt, verdammt noch mal?« Er hatte sie auf die Stirn geküsst . »Für dich wird es vielleicht immer ein Kampf sein«, sagte er. »Du willst es einfach zu sehr.«
Die Klasse wartete, wurde ungeduldig bei dem vielen Gerede über Phantome. Sie wollten die Geschichte, ihre Geschichte.
Sie wollten auf dem Gipfel des Berges stehen. Wisst ihr, wie sich das anfühlt, wollte sie sie fragen, wenn sich euer ganzes Leben auf einen Moment konzentriert, der ein paar Stunden dauert? Wisst ihr, wie es ist, wenn es nur noch abwärts geht?
»Ich war im zweiten Zweier-Team mit Sherpa Pemba«, sagte sie. »Das Wetter war perfekt, perfekt. So klar, dass man das Gefühl hatte, man könne direkt durch den Himmel in das hineinsehen, was dahinterlag. Das erste Team muss mittlerweile den Gipfel erreicht haben, sagte ich zu Pemba. Das Wetter hält sich, wir können aufbrechen. Pemba wurde sehr ernst, eine ziemliche Veränderung, denn er war einer der Clowns der Expedition. Auch er war noch nie auf dem Gipfel gewesen. Zu dem Zeitpunkt hatte ich nicht den Plan, ohne Sauerstoff zu gehen, aber als ich sah, dass Pemba keinen mitnahm, dachte ich, okay, ich auch nicht. Es war eine Schnapsidee, total unprofessionell, aber plötzlich wollte ich eine Frau sein, die oben auf dem Wahnsinnsberg sitzt, ein menschliches Wesen, keine Atemmaschine. Pemba sagte, Allie Bibi, tu das nicht, aber ich marschierte einfach los. Nach einer Weile kamen wir an den anderen vorbei, die beim Abstieg waren, und ich konnte das wunderbare Etwas in ihren Augen sehen. Sie waren high, in unglaublicher Hochstimmung, und merkten nicht einmal, dass ich meine Sauerstoffausrüstung nicht dabei hatte. Passt auf, riefen sie zu uns herüber, Achtung vor den Engeln. Pemba war in einen guten Atemrhythmus gefallen, und ich schloss mich an, atmete aus, wenn er ausatmete, und ein, wenn er einatmete.
Ich spürte, wie etwas meine Schädeldecke anhob, und ich grinste, ich musste übers ganze Gesicht grinsen, und als Pemba in meine Richtung schaute, sah ich, dass auch er grinste. Es wirkte wie eine Grimasse, als hätte er Schmerzen, aber es war bloß die närrische Freude.« Sie war eine Frau, die durch harte körperliche Arbeit, durch das Hochhangeln an eisbedeckten Felswänden, zur Transzendenz geführt worden war. »In diesem Augenblick«, erzählte sie den Mädchen, die jeden Schritt des Weges neben ihr kletterten, »glaubte ich alles: dass das Universum einen Klang hat, dass man den Schleier lüften und Gottes Gesicht sehen kann, alles. Ich sah, wie die Berge des Himalaja sich unter mir hi nzogen, und auch das war Gottes Gesicht. Pemba muss in meinem Ausdruck etwas gesehen haben, das ihn beunruhigte, denn er rief herüber, Vorsicht, Allie Bibi, die Höhe. Ich erinnerte mich daran, dass ich den letzten Überhang mehr oder weniger hochschwebte, hoch zum Gipfel, und dann waren wir da, auf einem Stück Fels, der nach allen Seiten hin abfiel. Dieses Licht; die Welt war zu Licht geläutert.
Ich wollte mir die Kleider vom Leibe reißen und es in meine Haut einziehen lassen.« Nicht ein Kichern in der Klasse; sie tanzten nackt mit ihr auf dem Dach der Welt.
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