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Die Satanischen Verse

Die Satanischen Verse

Titel: Die Satanischen Verse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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oder einem mitternächtlichen Fernsehfilm stand, ein Geschöpf, mit Matsch und Eis und Blut bedeckt, die haarigste Gestalt, die man sich vorstellen konnte, mit den Haxen und Hufen eines riesigen Ziegenbocks und dem Torso eines Mannes über und über mit Ziegenhaar bewachsen, menschlichen Armen und einem gehörnten, ansonsten aber menschlichen Kopf, mit Dreck und Kot beschmiert und mit den Anflügen eines Bartes. Und dieses Ding der Unmöglichkeit stürzte nun, allein und unbeobachtet, auf den Fußboden und blieb reglos liegen.
    Oben, ganz oben unterm Dach, das heißt, in Saladins Höhle, wand Pamela sich in den Armen ihres Geliebten, weinte sich das Herz aus und heulte aus vollem Halse: »Es ist nicht wahr.
    Mein Mann ist explodiert. Kei ne Überlebenden. Hörst du mich? Ich bin die Witwe Chamcha, deren Ehemann mausetot ist.«

5

    Auf der Zugfahrt nach London wurde Mr. Gibril Farishta verständlicherweise noch einmal von der Angst ergriffen, dass Gott beschlossen hätte, ihn für seinen Abfall vom Glauben zu bestrafen, indem er ihn in den Wahnsinn trieb. Er hatte sich auf einen Fensterplatz in einem Nichtraucherabteil der Ersten Klasse gesetzt, mit dem Rücken in Fahrtrichtung, weil leider schon ein anderer Mensch auf dem anderen Fensterplatz saß, und er hockte da, den Filzhut weit in die Stirn gezogen, die Fäuste tief in scharlachrotgefüttertem Gabardine vergraben, und durchlitt einen neuerlichen Anfall von Panik. Die schreckliche Angst davor, den Verstand an ein Paradox zu verlieren, von etwas vernichtet zu werden, an dessen Existenz er nicht mehr glaubte, sich in seinem Wahnsinn in das Avatara eines schimärenhaften Erzengels zu verwandeln, diese Angst in ihm war so stark, dass er nicht imstande war, sich längere Zeit damit zu befassen; aber wie sonst sollte er die Wunder, Metamorphosen und Erscheinungen der letzten Tage erklären?
    »Es gibt nur eine Alternative«, dachte er in stummem Entsetzen. »A, ich bin nicht mehr richtig im Kopf, oder B, Baba, irgendjemand hat einfach die Spielregeln geändert.«
    Jetzt aber befand er sich im tröstlichen Kokon dieses Eisenbahnabteils, in dem beruhigenderweise nichts Übernatürliches vor sich ging, die Armlehnen durchgescheuert waren, die Leselampe über seiner Schulter nicht funktionierte, der Spiegel im Rahmen fehlte, und dann waren da noch die Vorschriften: die kleinen, runden rot-weißen Zeichen, die das Rauchen verboten, die Aufkleber, die den unbefugten Gebrauch der Notbremse unter Strafe stellten, die Pfeile, die den Punkt anzeigten, bis zu dem - und nicht weiter - es erlaubt war, die kleinen Schiebefenster zu öffnen. Gibril stattete der Toilette einen Besuch ab, und auch hier erfreute eine kleine Sammlung von Verboten und Anweisungen sein Herz. Zu dem Zeitpunkt, als der Schaffner mit der Autorität seines Halbmonde knipsenden Zangendruckers erschien, hatte Gibril sich von diesen Manifestationen von Recht und Ordnung schon halbwegs beruhigen lassen und begann, sich zu entspannen und Rationalisierungen zu erfinden. Er war dem Tod knapp entkommen und danach in eine Art Delirium gefallen, und jetzt, da er wieder zu sich gefunden hatte, konnte er damit rechnen, dass sich die Fäden seines alten Lebens - das heißt, seines alten neuen Lebens, des Lebens, das er äh vor dieser Unterbrechung geplant hatte - wieder aufnehmen ließen. Und während der Zug ihn immer weiter wegbrachte von dem zwielichtigen Ort seiner Ankunft und der anschließenden mysteriösen Gefangenschaft, ihn über angenehm berechenbare, parallele Metallstränge trug, spürte er, wie die Anziehungskraft der großen Stadt begann, ihren Zauber auf ihn auszuüben, und seine alte Gabe der Hoffnung meldete sich wieder, sein Talent, das Neue willkommen zu heißen, sich von vergangenen Nöten abzuwenden, so dass die Zukunft in Sicht kommen konnte. Er sprang von seinem Sitz auf und ließ sich auf einen Platz gegenüber fallen, um sein Gesicht symbolisch gen London zu richten, selbst wenn das bedeutete, den Fensterplatz aufzugeben. Aber was machte er sich schon aus Fenstern? Das London, das er wollte, war sowieso da, vor seinem geistigen Auge. Er sprach ihren Namen laut aus:
    » Alleluja .«
    » Alleluja , Bruder«, bekräftigte der einzige andere Fahrgast im Abteil seinen Ausruf. »Hosianna, mein guter Herr, und Amen.«
     
    »Obwohl ich zugeben muss , Sir, dass mein Glaube in keiner Weise konfessionell gebunden ist. Hätten Sie gesagt: ›La-ilaha‹, so hätte ich Ihnen freudig und aus vollem Herzen mit

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